The Dawning


".... wach auf ...."

".... Wach auf ...."

".... WACH AUF ...."

Erschrocken schlug ich die Augen auf. Es war dunkel. Nein, nicht dunkel - es war schwarz. Eine absolute Finsternis umgab mich, dunkler als alles, was ich je gesehen hatte und von einer brutalen Intensität, die man fast körperlich spüren konnte. Und diese Stimme, die noch immer rief: ".... Wach Auf!". Es war eine tiefe, dunkle Männerstimme, mit der ein seltsamer, vertrauenerweckender Unterton mitschwang. Sie kam mir vor, wie die eines guten Freundes, den ich schon seit Ewigkeiten kannte, obwohl ich bisher nur wenige und immer die gleichen Worte vernommen hatte. Endlich legte ich meinen Schrecken ab und fragte: "Wer bist du?"

"Du kennst mich.", kam nach einer kurzen Pause zurück.

"Woher?"
"Du wirst es sehen."
"Wie soll ich dich kennen, wenn wir uns erst begegnen werden?"
Das Gespräch und diese ganze abstruse Situation begannen mich nervös zu machen. Ich wußte nicht, wo ich war, warum ich hier war und wie ich wieder von hier wegkommen könnte.
"Du wirst es sehen.", wiederholte die Stimme.
Nachdem ich erkannte, daß ich darauf keine Antwort bekommen würde, versuchte ich wenigstens herauszufinden, wo ich war. Mit einer Stimme, die ungleich ruhiger klang als mir innerlich zumute war, fragte ich: "Wo bin ich hier?"
Die jetzige Pause war länger als zuvor. Es schien, als würde mein unsichtbares Gegenüber überlegen, wie es dieser Frage am besten ausweichen könnte. Nach einer guten halben Minute, kurz bevor meine Geduld zu Ende gewesen wäre, kam die Antwort:
"Du träumst."
"Wovon?"
Ich war von meiner eigenen Schlagfertigkeit überrascht, doch diesmal kam die Antwort schneller. "Von deinem Schicksal."
"Mein Schicksal? Dann bist du mein Schicksal?"
"Ja."
"Dann kannst du nicht existieren, weil ich nicht an Schicksal glaube."
Diese innere Logik war so überzeugend, daß ich selbst fast daran geglaubt hätte. Aber wenn diese Stimme wirklich mein Schicksal sein sollte, dann würde es sich wohl kaum darum kümmern was ich glaube - und genau so war es auch.
"Du wirst mich anerkennen. Folge deinem Schicksal!"

Ein lautstarker, greller Ton in meinem rechten Ohr riß mich aus meinen Gedanken. Verstört blickte ich um mich, aber anstelle einer neuen Vision war vor mir nur mein Zimmer. Der Ton wiederholte sich, doch diesmal sehr viel leiser und ich erkannte ihn auch endlich wieder. Es war der Wecker meiner Armbanduhr, auf die ich mein Ohr gelegt hatte. Der seltsame Traum hing noch kurze Zeit wie eine schaler Nachgeschmack in meinen Gedanken, aber als ich aufstand, hatte ich ihn auch schon wieder vergessen.
Vielmehr interessierte mich jetzt, daß der erste Ferientag war. Nach endlosen acht Wochen Schule war das letzte, was ich jetzt noch gebrauchen konnte philosophische Gedanken über Traumdeutungen. Also konzentrierte ich mich auf den eigentlichen Grund, aus dem ich mich an diesem ersten Freitag in den Ferien zu einer so gotteslästerlichen Zeit wecken ließ: Ich hatte noch nicht gepackt. Als einziger von uns vier - meiner Mutter, meinen beiden älteren Brüdern und mir - hatte ich es gestern nicht mehr für nötig gehalten meine Sachen für unsere Berlinfahrt zu packen. Das Angebot unserer Tante, sie auf ihrem Landhaus zu besuchen bekamen wir erst vor drei Tagen, somit war das Ganze recht kurzfristig, noch dazu, da es ja noch in der Schulzeit war.
Mein erster Blick fiel aus dem Fenster. Was ich dort aber sah, erschreckte mich: Es war dunkel. Ich hatte meinen Wecker auf acht Uhr gestellt und normalerweise war es zu dieser Zeit schon taghell. Etwas verwundert sah ich auf die Uhr. Sie zeigte tatsächlich acht Uhr an, doch das konnte nicht sein. Ich überprüfte noch die Uhr über meinem Bett, doch es blieb bei dem Ergebnis von inzwischen einer Minute nach acht. Die dritte und letzte Möglichkeit, die ich noch sah dieses Rätsel zu lösen, war mein Funkwecker in meinem Computerzimmer. So leise wie möglich, um meinen Bruder, der in dem gleichen Zimmer wie ich schlief, nicht zu wecken, schlich ich auf den Gang und von dort nach links, in mein kleines, mir aber sehr viel sympathischeres Zimmer. Der Wecker stand auf meinem Schreibtisch, direkt zwischen der Tastatur und dem zum Mousepad umfunktionierten, mir so verhaßten Chemieordner. Und von ihm, bzw. dem untrüglichen Sender, der die richtige Uhrzeit hierher schickte, bekam ich endlich die einzig mögliche Erklärung bestätigt: Es war kurz nach vier, mitten in der Nacht. Verwirrt verglich ich die Uhrzeit meiner Armbanduhr mit der des Weckers, doch es blieb dabei, fast vier Stunden Unterschied, dabei hatte ich die Uhren erst diese Woche das letzte Mal aneinander angeglichen. Und mein anderer Wecker, den ich aus meinem Schlafzimmer mitgenommen hatte, zeigte genau die gleiche, falsche Zeit an.
Obwohl mir das Ganze äußerst seltsam vorkam, beschloß ich, die Zeit, die ich jetzt hatte, für irgendetwas sinnvolleres zu nutzen, als eine Lösung zu suchen, die ich wahrscheinlich nie finden würde. Nachdem ich meine Uhren wieder berichtigt hatte, setzte ich mich also vor meinen Computer. Packen konnte ich ja um die Zeit noch nicht - mein Bruder hätte mich wahrscheinlich umgebracht. Es war schon ein Wunder, daß er durch meinen Wecker nicht aufgewacht war.
Als mein PC nach dem dritten Absturz endlich richtig startete, schloß ich vorsichtig die Tür und schaltete den Verstärker an. Gerade als ich mich hinsetzen wollte, fiel mir ein, daß es ja noch vor fünf Uhr war, also noch innerhalb des billigen Internettarifs. Ich ging wieder zurück zur Tür, steckte mein Telefon aus und schloß an dessen Stelle den Computer an die Telefondose an, auch auf die Gefahr hin, daß ein Anrufer an meine Nummer nur ein Belegtzeichen bekommen würde. Aber wer würde jetzt schon anrufen?
Froh darüber, daß ich das letzte Mal für dieses Wochenende noch billig meine Mails abrufen konnte, klinkte ich mich ins Netz ein und ließ alles herunterladen, was sich schon wieder in meinem Account angesammelt hatte. Nebenbei schrieb ich noch eine kleine Meldung an alle die in meiner Bekanntenliste waren, daß ich das Wochenende nicht erreichbar sein würde und schickte sie los. Damit würde ich dann wenigstens keine Vorschläge für irgendwelche Wochenendtreffen bekommen, die ich so oder so abgesagt hätte.
Als mein Account wieder leer war - knapp zwei Minuten später - war ich auch schon wieder ausgeklinkt und sah mir in aller Ruhe an, was ich bekommen hatte. Die ersten fünf Nachrichten waren reine Werbung, von der ich allmählich genug hatte. Es wunderte mich, daß es so viele Firmen gab, die Nachts Werbung verschickten, denn immerhin war es gerade einmal sieben Stunden her, seitdem ich die letzten drei Werbemails erhalten hatte. Ohne es auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen schickte ich das Ganze in den extra dafür angelegten "Müll" - Ordner. Vielleicht würde ich es mir irgendwann einmal ansehen - irgendwann, wenn ich genug Zeit dafür hätte, was wahrscheinlich nie der Fall sein würde.
Die nächsten zwei kamen von zwei meiner "sogenannten" Freunde, die es immer noch für überaus witzig hielten, mir sinnlosen Schrott oder einfach nur Beleidigungen zukommen zu lassen, und der eine glaubte tatsächlich immer noch, daß ich so dumm wäre, den Virus, den er mir inzwischen schon zum vierten Mal geschickt hatte, doch noch auszuführen. Auch das landete unverzüglich auf dem Müll. Als nächstes kamen ein paar Nachrichten von meinen wirklichen Freunden, jedoch nichts, was mein Interesse richtig wecken konnte. Ich las es mir durch, ohne es für nötig zu halten, auch nur eine davon zu beantworten, schließlich wollte ich ja das Wochenende über eben nicht erreichbar sein. Außerdem wollten die meisten eh nur, daß ich ihnen irgendeine CD ausleihe, oder ihnen irgend etwas bei ihren Computern reparieren sollte.
Entnervt beschloss ich, seit langem einmal wieder ein bißchen Computer zu spielen, wenn ich schon einmal genug Zeit dazu hatte, ohne ständig daran denken zu müssen, was ich eigentlich noch alles machen müßte. Also startete ich das erstbeste Spiel, das sich in den unergründlichen Weiten meiner Festplatte fand, wobei sich die Auswahl eh nur auf zwei Möglichkeiten beschränkte, und begann ein neues Spiel.
Erst eineinhalb Stunden später konnte ich mich von dem Rollenspiel, das mich immer wieder fesselte, losreißen und besann mich auf den eigentlichen Grund, aus dem ich mich wecken ließ. Es war immer noch ruhig in den anderen Zimmern, aber hier konnte ich schon einmal anfangen, das wichtigste einzupacken. Leise holte ich die kleine Reisetasche aus meinem Schlafzimmer und begann, sie wahllos mit Kleinzeug vollzustopfen, das ich vielleicht brauchen könnte.
Eine weitere halbe Stunde später - es war inzwischen nach sechs Uhr - war die Tasche endlich voll, nachdem ich mindestens die Hälfte wieder herausgenommen und durch anderes Zeug ersetzt hatte. Ich hätte jetzt die nächste Tasche holen und weiter packen können, doch allmählich machten sich die etwas mageren drei Stunden Schlaf doch noch bemerkbar. Damit ich die achtstündige Fahrt wenigstens halbwegs wach überstehen würde, beschloß ich, mich noch einmal hinzulegen und zu versuchen, etwas zu schlafen, wobei ich schon im Voraus wußte, daß mir das nicht gelingen würde. Nach kaum zehn Minuten gab ich den Versuch auch schon wieder auf und griff zu einem meiner Bücher, von denen genügend auf meiner Bettablage standen. Schon nach kurzer Zeit hatte mich die Geschichte genauso gefesselt, wie zuvor das Spiel und ich vertiefte mich ganz in mein Buch.

Pünktlich um 9 Uhr, wie an jedem freien Tag, stand meine Mutter auf und begann unten im Eßzimmer ein Frühstück herzurichten. Das Buch, das ich gelesen hatte, war schon wieder fast zu Ende, doch ich wollte mir den Schluß, der erfahrungsgemäß immer am spannendsten war, für ein anderes Mal aufheben. Also stand ich ebenfalls - an diesem Tag schon das zweite Mal - auf, zog mich an und gesellte mich zu meiner Mutter ins Erdgeschoß, die geistesgegenwärtig gleich zwei Tassen Kaffee aus der Maschine ließ als sie mich herunterkommen hörte. Wenig später saßen wir zusammen am Eßtisch und aßen, bzw. meine Mutter aß etwas und ich schaute ihr dabei zu, denn am Morgen hatte ich nie Hunger. So trank ich nur meinen Kaffe und beantwortete ihre Frage, warum ich schon so früh auf sei. Normalerweise war ich es, der von uns allen immer am längsten im Bett blieb.
"Ich muß noch packen", war meine Antwort.
"Warum hast du das nicht gestern gemacht?"
Ich hatte diese Frage erwartet und mir fiel auf Anhieb eine ganze Liste an Dingen ein, die mir gestern wichtiger waren, als zu packen, aber sie gehörten alle zu der Gruppe von Dingen, die meine Mutter wohl kaum zufriedenstellen würde. Deshalb sagte ich nur, daß ich noch für mein Englischreferat Informationen sammeln musste, was sogar - wenigstens zum Teil - stimmte, und daß ich auch schon einen Teil zusammengepackt hätte. Das überzeugte meine Mutter und sie ermahnte mich nur noch:
"Beeil dich aber! Wir fahren Punkt 12 Uhr!"
Auch das hatte ich erwartet. Bei festen Terminen setzte meine Mutter immer irgendeine Zeit fest, die wir nie einhalten würden, weil jeder von uns von Haus aus eine halbe Stunde dazurechnete und wir trotzdem fast immer zu früh ankamen.
Ich stürzte noch schnell den letzten Rest meines Kaffees hinunter, den ich wieder einmal ein Rekordzeit geleert hatte. Genauso wie mein allmorgendlicher Hungerstreik war das eine äußerst ungesunde, aber unter Zeitdruck ungemein praktische Angewohnheit. Ich räumte meine Tasse in die Küche und ging wieder hinauf. Bis Mittag hatte ich noch knappe drei Stunden, in denen ich einiges schaffen wollte und musste. So holte ich mir die andere Reisetasche und begab mich anschließend in mein Schlafzimmer. Mein Bruder Martin war inzwischen auch schon halbwegs wach - ob jetzt durch mich oder die Kaffeemaschine wusste ich nicht und es war mir im Moment auch egal - und sah verschlafen auf seine Uhr, während er irgend etwas unverständliches vor sich hin nuschelte. Ich rief ihm ein kurzes "Morgen." quer durch das Zimmer zu und ging zum Kleiderschrank um die Sachen einzupacken, die ich anziehen würde. Viel war es nicht, wir fuhren ja eh nur für zwei Tage und drei Nächte weg.
Martin hatte es inzwischen geschafft, die Zahlen auf seiner Uhr zu entziffern und legte sich zufrieden wieder hin. Er konnte ja noch schlafen, seine Taschen standen fertig zum Mitnehmen unten im Gang. Nachdem ich auch die zweite Tasche vollgestopft hatte, stellte ich sie zu meiner ersten und den von meinen Brüdern. Jetzt hatte ich noch gute zweieinhalb Stunden Zeit für Nichts - ich hatte wieder einmal viel zu großzügig gerechnet. Darum musste einmal öfter der Computer dienen, auch wenn ich im Moment keine Musik anhören konnte - was ich gerne getan hätte. Aber sonst würde ich sofort wieder von mindestens zwei meiner Mitbewohner zurechtgewiesen werden, daß die Musik so schrecklich laut sei. Aber Computer allein reichte auch schon. Zu meiner eigenen Überraschung hatte ich gerade überhaupt keine Lust, irgend etwas zu spielen. Statt dessen suchte ich mir die Daten für mein Englischreferat zusammen, nachdem ich meinen PC nach zwei zusätzlichen Neustarts dazu überreden konnte doch noch richtig hochzufahren, und begann, an der Internet-Seite weiterzubauen, die ich extra dafür gemacht hatte.

Um 11.40 Uhr - wie konnte es anders sein - kam meine Mutter nach oben.
"Wir fahren dann - packt euch schonmal zusammen!", rief sie uns zu.
"Wir haben noch zwanzig Minuten. Außerdem: Wer sagt, daß wir um zwölf fahren müssen?", antwortete mein Bruder Martin.
Er brachte bei solchen Situationen immer irgend ein völlig logisches, aber ebenso sinnloses Argument. Erstaunlicherweise fielen ihm immer wieder neue ein, die meine Mutter immer mit demselben Gegenargument niederzuschlagen versuchte:
"Wir haben gesagt, daß wir um zwölf fahren, also fahren wir um zwölf, ansonsten kommen wir noch zu spät."
"Wir kommen nie zu spät."
"Und das ist auch gut so."
Damit hatte sich die Sache. Das Ganze erinnerte schon fast an ein Ritual zwischen den beiden von dem sich auch nur sie angesprochen fühlten. Mein anderer Bruder und ich kamen weiterhin völlig unbeeindruckt unseren momentanen Beschäftigungen nach. Er lag im Bett und schlief, während ich ein kleines Bild für meine Seite generierte. Ich sah jetzt schon das verblüffte Gesicht meines Englischlehrers, der ungefähr genauso wenig Ahnung von Computern hatte, wie ca. siebzig Prozent unserer Lehrer - nämlich gar keine.
Gute zehn Minuten nach 12 Uhr bequemte ich mich dann dazu, den PC auszuschalten und meinen Bruder aufzuwecken, bzw. aus dem Bett zu werfen. Wach war er seit gut zwei Stunden und seit einer lag er angezogen im Bett, nachdem er sich ebenfalls einen Kaffee genehmigt hatte. Dennoch stellte es regelrechte Schwerstarbeit dar, ihn zum Aufstehen zu bringen. Erst als ich ihm die Uhrzeit sagte, sah er ein, daß es doch besser wäre, aufzustehen. Meine Mutter hatte inzwischen schon ungefähr zwanzig Mal von unten heraufgerufen, daß wir endlich herunterkommen sollten. Ich folgte ihrem wiederholtem Ruf und packte unsere ganzen Taschen in den Kofferraum - natürlich allein. Meine Brüder blieben wieder genau so lange in ihren Zimmern, bis ich alles eingeräumt hatte und sie nichts mehr machen mussten.
"Können wir dann endlich fahren?", fragte meine Mutter als die beiden da waren und sich ihre Schuhe anzogen.
"Wieso müssen wir uns so beeilen? Wir haben doch gar kein Zeitlimit."
Wieder eine von Martins schlauen Bemerkungen; diesmal reagiert meine Mutter nur noch mit einem resignierenden Kopfschütteln.
"Wie lange dauert die Fahrt eigentlich?", fragte ich, um das Thema zu wechseln, da ich fand, daß die Situation schon gespannt genug war.
"Acht Stunden, ich glaube, daß ich das inzwischen schon oft genug gesagt habe!"
Damit richtete sich die exzellente Laune meiner Mutter wenigstens auch auf mich. Die Fahrt würde wieder äußerst angenehm werden. Ich konnte nur hoffen, möglichst schnell einzuschlafen, die besten Voraussetzungen dafür hatte ich ja, seit ungefähr acht Stunden.
Als alle eingestiegen waren, startete meine Mutter den Motor und fuhr los. Wie erwartet sprach niemand auch nur ein Wort, bis wir die Autobahneinfahrt erreichten und sich alle merklich entspannten. Aber auch danach beschränkte sich unsere Kommunikation nur darauf, welcher meiner Brüder, die beide schon einen Führerschein hatten, unsere Mutter wann ablösen sollte. Als auch das endlich geklärt war, lehnte ich mich zurück und versuchte, einzuschlafen, was mir nach Kurzem auch gelang.

Es war schon sechs Uhr, als ich wieder aufwachte. Erstaunlicherweise wurde ich nicht geweckt, sondern wachte von alleine auf. Den Platz des Fahrers hatte inzwischen Martin eingenommen. Vielleicht hatten sie auch schon öfter gewechselt - so genau hatte ich anfangs nicht aufgepaßt, mich brauchte es ja nicht zu interessieren. Meine Mutter saß jetzt neben mir auf der Rückbank und schlief, worum ich sie fast schon beneidete, da die Fahrt noch drei Stunden dauern würde, was mir ein Blick auf die Uhr verriet.
Gelangweilt lehnte ich mich wieder zurück und sah der Landschaft zu, die an mir vorbeiraste. Es war nichts außergewöhnliches zu entdecken und dennoch faszinierte mich der Anblick immer wieder, wenn vielleicht auch nur wegen der konstanten 180 km/h, die die Landschaft in einer perspektivischen und wunderbar stufenlosen Geschwindigkeitsabnahme vorbeifliegen ließ. Auch dieser Gedanke begann schon nach Kurzem langweilig zu werden und ich konzentrierte mich wieder intensiver darauf, hinauszustarren. Dadurch schien die Zeit zwar langsamer zu vergehen, aber das war immerhin noch besser, als gar nichts zu tun.
Nachdem ich etwa eine Stunde durch diese extrem sinnfreie Tätigkeit totgeschlagen hatte, wachte meine Mutter neben mir auch wieder auf, genau rechtzeitig, um Martin daran zu erinnern, die richtige Ausfahrt noch gute sechzig Kilometer vor Berlin zu nehmen, die er ohnehin nicht verpaßt hätte. Immerhin fuhr er die Strecke nicht das erste Mal. Auch ich wußte genau, wo wir hin mussten. Wir würden nach ca. zwanzig Minuten wieder abzweigen, diesmal Richtung Potsdam. Nach nochmals der gleichen Zeit würden wir dann endlich von der Autobahn Abschied nehmen und über Landstraßen das kleine Dorf Götz, von mir auch sehr gerne Kaff genannt, das genau zwischen Brandenburg und Potsdam lag, ansteuern.
Als wir dann endlich die Autobahn verließen, fiel mir wieder ein, wie ermüdend es doch war, weitere dreißig Kilometer mit 80 km/h hinter einem Lastwagen herzufahren, wenn man die Geschwindigkeit einer Schnellstraße gewohnt war. Nach einer schier endlosen halben Stunde erreichten wir die Einfahrt nach Götz und durchfuhren mit sehr viel mehr als den zulässigen fünfzig Stundenkilometern das kleine Dorf. Niemand verlor auch nur ein Wort über diese "Gesetzesübertretung", dafür merkte man jedem im Auto die Spannung an, die sich in der letzten Zeit aufgestaut hatte. Kurz hinter dem Ort gelangten wir dann in den Wald, der sich zwei Kilometer vor dem äußerst abgelegenen Haus unserer Tante erstreckte. Der Wald kam mir seit jeher etwas unheimlich vor, auch am hellichten Tag, ich schob meine Bedenken jedoch auf den miserablen Zustand der Straße, die diese Bezeichnung eigentlich gar nicht verdient hatte. Warum meine Tante so weit abseits von der eigentlichen Ortschaft in einer Ansammlung von vielleicht vier Häusern wohnte, war mir immer noch ein Rätsel. Vielleicht war es ja wirklich, weil das Grundstück so billig war, wobei ich mir das bei meiner Tante eigentlich nicht vorstellen konnte. Andererseits war es hier, direkt an der Havel, auch eine wunderschöne Gegend und es würde mich genauso ärgern, wenn ich zum Spazierengehen erst einmal zwei Kilometer mit dem Auto fahren müßte, vorausgesetzt natürlich, ich würde in meiner Freizeit überhaupt spazierengehen.
Ich drängte meine Gedanken zurück und konzentrierte mich wieder auf die Strecke, da wir inzwischen das Ende des Waldes erreicht hatten. Vor uns erkannte ich auch sofort das Haus, das im Gegensatz zu unserem letzten Besuch, wo es noch eine halbe Ruine war, schon einen recht ansehnlichen Eindruck machte. Vielleicht würde es meiner Tante und ihrem Mann Matthias, entgegen aller Prophezeiungen, doch noch gelingen, aus dem verfallenen Gemäuer ein wohnliches Zuhause zu machen. Ich richtete mich in der Erwartung einer herzlichen Begrüßung auf, genauso wie alle anderen im Auto, die genauso froh darüber waren, daß wir die Fahrt endlich hinter uns hatten. Aber wie immer erwartete uns niemand. Ob das nun daran lag, daß wir fast eine Stunde zu früh angekommen waren, wie ich es schon am Anfang der Fahrt vorhergesehen hatte, oder daß unsere Tante grundsätzlich nichts auf großartige Begrüßungszeremonien hielt, konnte ich nicht sagen. Es war ja auch egal, da das Ergebnis in jedem Fall dasselbe war: Wir mussten aussteigen und klingeln.
Während wir darauf warteten, daß uns jemand aufmachte, hatte ich Zeit meine Beine etwas auszuschütteln und das Gebäude vor dem wir standen einer genaueren Inspektion zu unterziehen. Es lag an der rechten Seite der Straße, auf der wir gekommen waren, mit einem kleinen Weg zum Eingang hin, an dessen linken Seite sich eine Reihe von vergleichsweise überdimensionalen Eichen erstreckte. Das Haus selbst war ein langgezogenes, rechteckiges und fast schon gedrungen wirkendes Gebäude an dessen beiden Seiten sich etwas niedrigere Anbauten befanden. Das linke war die Garage, wie ich aus unseren früheren Besuchen wußte und das rechte musste das kürzlich renovierte Gästehaus sein, in das wir höchstwahrscheinlich einquartiert werden würden. An den Fenstern, die gute zwei Meter hoch waren, konnte man schon die unglaubliche Höhe des Erdgeschosses, bzw. des einzigen Geschosses überhaupt, erkennen. Allein die Heizkosten, die durch so eine Platzverschwendung, wie ich es nannte, entstehen mussten, wären für mich Grund genug, niemals in dieses Haus einzuziehen. Ich beendete meine Inspektion mit einem letzten Blick auf unser Auto, das noch immer leise Geräusche von der langen Fahrt von sich gab.
Endlich kam auch Matthias und öffnete die Tür. Sein Gesicht verriet deutlich seine Überraschung, da er so früh wahrscheinlich nicht mit einem Besuch gerechnet hatte, schlug dann aber sofort in eine freundliche Mine um, als er uns erkannte.
"Ihr seid schon da? Kommt doch herein. Das Gepäck können wir ja später noch holen."
Mit einer einladenden Geste öffnete er die wuchtige Tür komplett und trat einen Schritt zur Seite. Inzwischen hatte auch unsere Tante, die kam, um den unerwarteten Besucher zu begrüßen bemerkt, daß wir es waren und kam auf meine Mutter zu, um sie zu umarmen. Ganz im Gegenteil zu ihrem etwas wortkargen Mann überschüttete sie uns noch während ihrer Umarmung mit einem regelrechten Fluß an Begrüßungen und wie glücklich sie doch sei, daß wir ihrer Einladung nachgekommen waren. Gleichzeitig versuchte sie uns nach links in das Wohnzimmer, von mir immer noch Wohnhalle genannt, zu schieben, obwohl wir noch nicht einmal unsere Schuhe ausgezogen hatten. Endlich schaffte es meine Mutter, sich aus der stürmischen Umarmung zu befreien und gab Matthias ihren Mantel, der ihn auch sofort beflissen in die Garderobe zu unseren Jacken, die wir schon ausgezogen hatten, hängte. Der Redeschwall unserer Tante hielt immer noch an, fing aber wenigstens in der Lautstärke an, allmählich zu versiegen. Erst als wir alle in der ca. achtzig Quadratmeter großen Wohnhalle saßen, die Kubikmeter wollte ich erst gar nicht ausrechnen, dafür waren mir die Zahlen zu hoch, kam meine Mutter wieder zu Wort:
"Ich hoffe, es macht nichts, daß wir schon so früh da..."
"Nein, nein, das ist kein Problem, ganz im Gegenteil, ich bin froh, daß ihr da seid.", unterbrach meine Tante sie.
"Auf der Autobahn war erstaunlich wenig los, wir sind gut durchgekommen."
"Dann war eure Fahrt wenigstens nicht so lang. Aber es macht wirklich nichts, daß ihr so früh gekommen seid. Ich hätte sonst noch das ganze Haus umgeräumt, weil ich nichts zu tun hatte."
Das glaubte ich meiner Tante sofort. Wenn es eine große Gemeinsamkeit mit meiner Mutter gab, dann war es die, alle möglichen Möbel umzustellen, wenn sie einmal ein paar Stunden Freizeit hatte. In der Tat konnte ich wieder einmal eine neue Konstellation der zahlreichen Sitzgelegenheiten rund um den offenen Kamin an der Rückseite des Zimmers ausmachen. Auch meine Mutter hatte das schon bemerkt.
"Es sieht schon ziemlich wohnlich aus. Ist der Sessel hier neu?"
fragte sie und deutete gleichzeitig auf einen der Sessel. Bevor meine Tante antworten konnte, unterbrach ich die Diskussion und fragte, ob ich nicht schon mein Gepäck ins Zimmer bringen sollte. Als es mir erlaubt wurde, schloß sich sofort mein Bruder, Martin, an, den das aktuelle Gespräch ungefähr genauso brennend interessierte, wie mich. Außerdem war ich schon wieder todmüde. Nachdem sie uns gesagt hatten, daß unsere Zimmer oben hergerichtet waren, gingen wir gemeinsam zum Auto zurück und luden uns soviel Gepäck auf wie möglich. Der Weg über die äußerst schmale Wendeltreppe ins Obergeschoß war alles andere als bequem und wir wollten uns nicht zehnmal hinaufquälen. Es erstaunte mich auch, daß wir nicht ins Gästehaus sollten, aber danach würde ich später fragen. Jetzt hatte ich erst einmal genug zu tun. Als wir endlich all unsere Taschen, auch die von den anderen, so viel Höflichkeit musste einfach sein, nach oben transportiert hatten, begaben wir uns beide schwitzend in unsere jeweiligen Zimmer, angeblich, um die Sachen einzuräumen. In Wirklichkeit aber legte ich mich ohne die Taschen auch nur einmal mehr anzusehen ins Bett. Wie ich eigentlich hätte vorhersehen müssen, schlugen die fehlenden Stunden Schlaf irgendwann ins Gewicht, und das passierte genau jetzt. Ich war so müde wie schon lange nicht mehr. Es war, als wenn ich weder gestern Nacht, noch während der Fahrt geschlafen hätte, als ich mich angezogen wie ich war in das Bett fallen ließ. Soweit ich wußte, war es das Zimmer meines Cousins Fabian, wahrscheinlich würde dann er mit seiner Schwester ins Gästehaus ziehen, überlegte ich mir und es war auch das letzte, an was ich dachte bevor ich endlich einschlief.

".... wach auf ...."

".... Wach auf ...."

Es war die gleiche Situation wie das erste Mal: Finsternis um mich herum und ein seltsames Gefühl von Schwerelosigkeit, daß eigentlich doch keines war. Ich konnte nicht ausmachen, ob ich in einem Raum, oder irgendwo auf freiem Feld stand. Ich wußte nicht einmal, ob ich tatsächlich stand oder vielleicht auch lag.
".... Wach Auf ...."
Diese Stimme. Ich kannte sie, doch woher? In Gedanken ging ich jede Stimme durch, die ich jemals vernommen hatte, aber das einzige Ergebnis war, daß endlich meine Logik wieder anfing, zu arbeiten. Ich musste diese Stimme kennen, schließlich war es ja mein Traum. Obwohl ich mir inzwischen nicht mehr ganz sicher war, ob es wirklich nur ein Traum war. Normalerweise, wenn ich träumte - was nicht allzu oft vorkam und schon gleich gar nicht denselben Traum zweimal hintereinander - war ich eine Art dritte Person, die mir selbst zusah, aber nicht eingreifen konnte, was immer auch geschah. Aber hier war mein Verstand vollkommen aktiv, ganz im Gegenteil sogar, er arbeitete mit einer Präzision, wie ich sie noch nie kennengelernt hatte. Vielleicht lag es nur an dem Blindeneffekt, den ich wahrscheinlich verspürte, in dieser schwarzen Umgebung oder daran, daß ich es so träumen wollte, auf jeden Fall nahm ich die nächsten Worte der Stimme mit doppelter Intensität wahr.
".....Wach Auf!"
"Ich bin wach, das heißt, so wach, wie man in einem Traum eben sein kann. Was willst du?"
"Dich erinnern."
"Und woran?"
"An mich."
Warum konnte diese Stimme einmal nicht in Rätseln sprechen? Es reichte wohl noch nicht, daß ich wieder völlig unausgeschlafen aufwachen würde, was ich stark annahm, da es derselbe Traum war - nein - das Ganze musste mich auch hier noch fertigmachen. Ich wollte schon ein paar Beschimpfungen loslassen, als mir wieder einfiel, daß sich dieses substanzlose Etwas das erste Mal mein Schicksal genannt hatte. Das meinte es also. Deshalb fragte ich, anstatt weiter auf dieses dumme Rätselspiel einzugehen:
"Was wird denn passieren, was so wichtig ist? Was steht in meinem Schicksal?"
"Du wirst dich verändern."
"Das hätte ich mir auch selbst beantworten können."
"Nicht in dieser Art. Du wirst dich von Grund auf verändern."
"Und wie, wenn man fragen darf?"
"Man darf."
Ich hatte schon gedacht, daß das Ganze allmählich wenigstens ansatzweise die From eines echten Gesprächs annahm, aber nachdem ich gute zwanzig Sekunden vergeblich auf eine weiter Antwort gewartet hatte, verflog diese Illusion so schnell wieder, wie sie gekommen war. Entnervt fragte ich noch einmal:
"Wie wird diese Veränderung aussehen?"
"Jetzt ist nicht die Zeit dafür, WACH AUF!"

Erschrocken schlug ich die Augen auf. Diesmal war ich wirklich wach und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Meine Ohren schmerzten und ich hörte die Stimme noch als leises Echo "....wach auf........wach auf......." allmählich abklingen. Leise jedoch nur, weil es von einem ungleich lauteren Pfeifton, dessen Ursprung ich irgendwo zwischen meinen Schläfen ausmachte, übertönt wurde. Die Stimme hatte so laut geschrien, daß ich das Gefühl hatte jeder Buchstabe sei einzeln in mein Gehirn gehämmert worden. Erst nach endlosen Minuten sank der Druck in meinem Kopf und das grelle Pfeifen auf ein erträgliches Maß zurück und ich konnte wieder klar denken.
Was wollte dieser Traum nur von mir? Und was meinte die Stimme damit, daß ich mich von Grund auf verändern würde? Vielleicht war es ja doch nicht nur ein Traum, so klar, wie meine Gedankengänge gerade eben waren. Außerdem hatte ich es noch nie erlebt, daß ich nach einem Traum darüber sinnierte, was er bedeuten könnte. Normalerweise vergaß ich jeden Traum spätestens eine Minute, nachdem ich aufwachte. Nicht aber jetzt. Ich konnte mich an jedes noch so kleine Detail erinnern, jedes Wort, das gesprochen wurde, ja sogar die Stimmlage, in der sie gesprochen wurden. Und trotzdem war es nur ein Traum. Mit einer ärgerlichen Handbewegung wischte ich meine Bedenken beiseite und stand auf. Wie konnte ich mich von einem Traum nur so aus der Ruhe bringen lassen. Ich wandte mich lieber wieder der Wirklichkeit zu, denn auch wenn es ein Alptraum war, konnte er nicht so schlimm gewesen sein. Ich fühlte mich ganz entgegen meinen früheren Vermutungen frisch und ausgeruht, obwohl ich nur ungefähr vier Stunden geschlafen hatte, was mir ein Blick auf die Uhr verriet. Es war gerade einmal halb eins vorbei, also noch mitten in der Nacht, dennoch war es mir, als hätte ich die ganze Nacht durchgeschlafen. Das einzige, was ich spürte, war nicht Müdigkeit, wie sonst immer, wenn ich aufstand, sondern Hunger. Allmählich kam mir dieser Traum immer seltsamer vor. Es konnte nicht nur ein Traum sein, nicht nach dem, was bisher immer danach geschehen war. Das erste Mal diese Geschichte mit der Uhr und jetzt diese dubiose Ausgeschlafenheit, die im krassen Gegensatz zu meinen eigentlichen morgendlichen Gefühlen stand. Irgend etwas paßte nicht zusammen bei diesem Traum - aber was? Wenn mir wenigstens einfallen würde, woher ich die Stimme kannte. Ich war mir inzwischen fast absolut sicher, daß ich sie kannte.
Jetzt reichte es! Ich fing schon wieder damit an, diesem lächerlichen Traum viel zuviel Aufmerksamkeit zu schenken. Ich hatte Hunger und das einzige, was ich jetzt wollte, war etwas essen.
Vorsichtig, um meinen Bruder, der wahrscheinlich auch schon schlief, nicht zu wecken, ging ich aus dem Zimmer und schlich die Wendeltreppe hinab. Unten angekommen ging ich erst geradeaus über den Eingangsflur Richtung Wohnzimmer und schwenkte dann kurz vor der Tür nach rechts zur Küche um. Als ich die Wohnzimmertür passierte, bekam ich erst einmal eine Überraschung: Weder meine Tante, noch meine Mutter waren schon im Bett. Sie saßen zusammen auf der Couch beim Kamin, in dem zu allem Überfluß auch noch ein Feuer vor sich hin knisterte, und redeten miteinander. Eigentlich hatte ich erwartet, daß sie sehr früh schlafen gehen würden, was beide eigentlich immer machten, aber die Weißweinflasche, die ich kurz darauf auf dem kleinen Tisch vor ihnen ausmachte gab mir die Erklärung für ihr langes Aufbleiben. Zum Glück hatten sie mir beide den Rücken zugewandt und mich auch nicht bemerkt, obwohl ich relativ laut gegangen war. So ersparte ich mir wenigstens die lästigen Fragen, die mit Sicherheit auf mich zukommen würden, wenn sie mich entdecken würden. Statt dessen schob ich mich noch leiser, als zuvor an der halboffenen Tür vorbei in die Küche und schloß hinter mir die Tür wieder. Das Licht ließ ich vorsichtshalber einmal aus. Ich konnte jetzt nur hoffen, daß ich auch irgendwelche Essensvorräte finden würde, doch diese Sorge erledigte sich, als ich den Kühlschrank öffnete. Meine Tante hatte hervorragend für unsere Verpflegung gesorgt, der Kühlschrank war von oben bis unten randvoll mit allem möglichen Eßbarem gefüllt. Unter anderem noch zwei Stück Sahnetorte, die ich sofort nahm und mir genüßlich einverleibte.
Ich aß fertig und räumte meinen Teller wieder auf, als plötzlich das Licht anging. Erschrocken drehte ich mich zur Tür. In Gedanken legte ich mir schon eine Ausrede zurecht, warum ich so spät noch in der Küche herumschlich, doch in der Tür stand niemand. Sie war noch immer geschlossen, so wie ich sie zurückgelassen hatte. Erst jetzt fiel mir auf, daß auch mit dem Licht etwas nicht stimmte. Es war farblos, nicht dieses gewöhnliche gelb von Glühbirnen, sondern grau und kalt, fast schon abweisend und als ich meinen Blick nach oben zu den drei Deckenstrahlern richtete, sah ich auch, warum es mich so erschreckte: Die Lampen waren ausgeschaltet. Das Licht kam von draußen durch die Fenster herein und es war so stark, daß es jeden Winkel des Raumes taghell ausleuchtete. Interessiert schritt ich zum Fenster und sah nach draußen, doch der Anblick war nicht halb so erstaunlich, wie ich anhand der seltsamen Erscheinung eigentlich angenommen hatte. Alles, was ich in der absoluten Dunkelheit, die sich durch den extremen Kontrast ergab, erkennen konnte, war ein winziger Lichtfleck inmitten des Waldes, der sich ohne Begrenzung an den Garten anschloß. Es musste eine sehr starke Lichtquelle sein, um das Zimmer derartig auszuleuchten; und es musste direkt auf mich gerichtet sein, sonst wäre der Garten auch erhellt, was er aber nicht war. Irgendwie beunruhigte mich dieser Gedanke. Wer beobachtet mitten in der Nacht die Küche eines so abgelegenen Hauses, nur um eventuell vorbeikommende Bewohner anzuleuchten. Das ergab keinen Sinn. Ich wollte die Sache schon vergessen und wieder ins Bett gehen, doch was sollte ich dann morgen den anderen erzählen? Das irgend jemand nachts Scheinwerfer im Wald aufstellt würde wahrscheinlich nicht allzu glaubwürdig klingen, außerdem müßte ich dann meinen nächtlichen Eßausflug gestehen. Gar nichts machen und wieder ins Bett gehen erschien mir dann doch das Beste zu sein. Doch irgend etwas sagte mir, daß die Sache wichtiger sei, als ich zuerst angenommen hatte. Eine innere Stimme, separat von meinem eigentlichen Verstand, versuchte mich davon zu überzeugen, daß ich dem Ganzen auf den Grund gehen müsse. Fast gegen meinen Willen verließ ich die Küche, durchquerte den Gang zur Garderobe hin und zog mir Schuhe und Jacke an. Mit fast schon traumwandlerischer Sicherheit, jedoch gegen meinen eigentlichen Willen, ging ich daraufhin zurück in die Küche, die noch immer durch das seltsame Licht erhellt war. Erstaunlicherweise hatten mich die Beiden im Wohnzimmer nicht bemerkt, obwohl ich relativ laut und noch dazu zweimal an ihnen vorbeigegangen war. Noch mehr erstaunte es mich aber, daß ich das alles überhaupt tat und nicht sofort wieder ins Bett ging. Doch allmählich musste ich mir eingestehen, daß der innere Kampf zwischen meinen logisch denkenden Verstand und der sonderbaren, jeder Vernunft entbehrenden Stimme längst entschieden war. Ich hatte verloren, mehr noch, sie hatte mich umgestimmt, nicht nur überredet, sondern regelrecht überzeugt. Zwangsläufig musste ich mich meinem Schicksal ergeben. Langsam öffnete ich die Tür, die von der Küche in den Garten führte und trat auf die Terrasse. Hier sah ich, daß das Licht wirklich nur auf die Küche beschränkt war. Außer dem Fensterrahmen war das Haus von außen völlig dunkel, bis auf das allumfassende Mondlicht, das die gesamte Umgebung in ein fahles, graues Licht tauchte. Ebenfalls in Dunkelheit gehüllt, schritt ich über den Garten auf den Wald zu, direkt in Richtung des kleinen weißen Schimmers, jedoch immer darauf achtend, nicht genau in den Strahl des Lichts zu gelangen, da es so hell war, daß ich absolut nichts mehr sah, wenn es mich blendete. Nur meine übertrieben festen Schritte zeugten davon, daß ich mir innerlich nicht halb so sicher war, wie es von außen den Anschein hatte, denn mein Verstand hatte inzwischen wieder angefangen, zu arbeiten und meinen inneren Kampf neu entbrennen lassen... Was, wenn das Licht auf einmal ausging? Ich würde genauso wenig wissen, wie zuvor, mit dem einzigen Unterschied, daß ich mitten im Wald stand und noch dazu fror. Auch wenn der Winter allmählich abklang, so war es doch noch recht kalt, vor allem in der Nacht. Ich war schon fast soweit, umzukehren, als mein imaginärer Widersacher seine Anstrengungen ebenfalls erhöhte, und zwar nicht nur so stark, meinen Argumenten standzuhalten, sondern so immens, daß er in der Lage war, meine sämtlichen Zweifel einfach wegzuwischen. Es war meine Aufgabe, diesem Licht und seiner Ursache nachzugehen, soviel war sicher. Mit noch festeren Schritten als zuvor, diesmal jedoch ohne meine zuvorige Unsicherheit, die genauso weggewischt war, wie meine Zweifel, ging ich weiter.
Die Umgebung änderte sich hier überhaupt nicht. Ich war noch nie in diesem Wald, aber eigentlich hatte ich erwartet, daß sich sein Aussehen irgendwie verändern würde, wenn man tiefer in ihn eindrang, doch obwohl ich jetzt schon gute fünf Minuten lang immer in die gleiche Richtung ging, sah er genauso aus, wie am Rand; der einzige Unterschied war, daß das Haus inzwischen nicht mehr zu sehen war, doch das kümmerte mich im Moment weniger. Ich wußte, aus welcher Richtung ich gekommen war. Ich musste nur genau entgegengesetzt zurückgehen und würde somit automatisch wieder zum Haus gelangen. Viel wichtiger war mir jetzt, wann ich endlich zu dieser Lichtquelle gelangen würde.
Mit einem Mal kam Nebel auf. Ohne irgendwelche Anzeichen. Es war zuvor kalt, aber eigentlich nicht feucht gewesen. Es konnte gar kein Nebel entstehen. Dennoch zogen jetzt vom Boden ausgehend Nebelschwaden nach oben. Zuerst nur kleine, weiße Flocken, die sich um meine Beine wanden und schließlich langsam weiter nach oben zogen. Verdutzt blieb ich stehen. Die Windstille verhinderte, daß sich die Schwaden verzogen und so wurde der Nebel zunehmend dichter. Anfangs hielt ich es noch für harmlos, solange sich der weiße Schleier auf den Boden beschränkte, doch ich konnte regelrecht zusehen, wie er immer weiter nach oben kroch, zu meinen Knien, wie er meine Hände erreichte und immer noch, sogar schneller werdend, weiter stieg. Die unnatürlich kalte Berührung erschreckte mich und ich wich automatisch einen Schritt zurück, doch der weiße Teppich erstreckte sich am Waldboden, soweit ich sehen konnte. Unfähig für die kleinste Bewegung musste ich zusehen, wie mich der inzwischen fast schon abartig dichte Nebel schließlich vollständig einhüllte. Seltsamerweise war es jetzt nicht halb so kalt, wie mir die erste Berührung erschienen war. Der Nebel nahm mir zwar vollkommen die Sicht, umhüllte mich gleichzeitig jedoch wie ein Schutzwall, der Sicherheit versprach. Auch die Panik, die in dieser völlig ausweglosen Situation eigentlich normal gewesen wäre, blieb aus; dafür konnte aber auch diese innere Stimme gesorgt haben, die noch immer ihre unsichtbaren, unhörbaren und dennoch eindringlichen Beschwörungen in meinen Verstand schickte. Statt in Panik auszubrechen, überlegte ich völlig rational, fast schon kalt, wie eine Maschine, was ich für Möglichkeiten hatte. Zum einen konnte ich umkehren und möglichst geradlinig zum Haus zurückgehen. Ich konnte auch solange hier rasten und mir die Richtung merken, bis sich der Nebel wieder auflöste. Die dritte und hauptsächlich wegen meinem inneren Begleiter am sinnvollsten erscheinende Möglichkeit war, dem Licht weiter nachzugehen, das noch immer schwach durch den Nebel hindurchschien. So konnte ich nicht die Richtung verfehlen und ich würde genau das tun, warum ich schließlich hier war. Entschlossen ging ich los, langsamer als vorher, jedoch nur, damit ich nicht unversehens über eine Wurzel fiel.
Das Leuchten hatte sich inzwischen vergrößert. Es war nicht mehr nur ein kleiner Schemen, sondern eine regelrechte, erhellte Nebelwand vor mir, die immer größer und intensiver zu werden schien. Ich mußte schon sehr nahe gekommen sein, an was auch immer es war, dem ich mich näherte. Der Nebel war auch immer schlimmer geworden, vielleicht kam es mir auch nur so vor, da das Licht so hell war, daß es fast schon in den Augen weh tat. So erkannte ich auch nicht, daß ich mich schon längst nicht mehr durch einen Wald bewegte. Erst als der Nebel plötzlich verschwand, sich nicht nur auflöste, sondern wirklich in wenigen Sekunden völlig weg war, sah ich, wo ich mich wirklich befand:
Ich stand am Rand einer großen Lichtung, in deren Mitte eine Burg thronte. Eine echte, mittelalterliche Burg, an der nicht einmal der Graben fehlte, an dessen äußerem Rand sich der Wald erstreckte. Völlig verdutzt stand ich einige Meter vor der herabgelassenen Zugbrücke und starrte die seltsame Erscheinung an. Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da sah. Inmitten eines Waldes, nur ein paar hundert Meter vom nächsten Haus entfernt, stand eine Burg. Das konnte nicht sein. Irgend jemand hätte sie schon längst entdecken müssen und meine Zweifel wurden noch bekräftigt. Als ich mir die Burg etwas genauer ansah, erschien sie mir irgendwie... aufgesetzt. Wie wenn sie nicht hierher gehörte, was sie auch zweifellos nicht tat, aber nicht in dem Sinn, daß es nicht normal war, daß hier eine Burg stand, sondern sie paßte einfach nicht in die Umgebung, sie wirkte unnatürlich, falsch. Aber was immer das auch bedeuten sollte, wenigstens wußte ich jetzt, was mir meine innere Stimme zeigen wollte. Es bedurfte gar nicht mehr ihrer Nachhilfe, um mich das Gebäude betreten zu lassen, meine Neugierde war endgültig geweckt.
So schritt ich über das Stück Wiese auf die Zugbrücke, vorbei an zwei auf Sockeln stehenden Fackeln, die einzigen Lichtquellen außer dem Mond, die die gesamte Umgebung in ein flackerndes, rotes Licht tauchten. Das Holz der Zugbrücke knarzte fast unhörbar unter meinen Schritten; das Geräusch gesellte sich zu dem leisen Knistern der Fackeln und dem noch leiseren Plätschern des Wassergrabens unter mir. Als Eingang der Burg diente ein überdimensionales, zweiflügliges Holztor, dessen rechte Hälfte ein wenig offenstand, wodurch ein schmaler Lichtstreifen auf den Steinboden vor mir fallen konnte. Mit einem für die Größe erstaunlich leisen Knarren ließ sich der Torflügel weit genug öffnen, daß ich das Gebäude betreten konnte.
Der Anblick verschlug mir den Atem. Das Innere der Burg sah mehr aus, wie ein komplett eingerichtetes Schloß. Die Inneneinrichtung spottete dem, trotz der Größe, recht schlichten Äußeren in jeder Weise. Die Eingangshalle, und es war wirklich eine Halle, übertraf sogar die Wohnhalle meiner Tante. Die ersten zehn Meter wurden von einem roten Teppich geschmückt, der jedem Billigroman hätte entspringen können, so sauber und gleichmäßig war er verlegt. Beide Seiten des Teppichs wurden nach ungefähr vier Metern Marmorboden von riesigen Säulen flankiert, hinter denen die weitere Größe des Raumes fast vollkommen im Dunkeln verschwand. An jeder der Säulen hing ungefähr in Kopfhöhe eine Fackel, die ein flackerndes Licht in die Mitte des Raums abstrahlten und die Dunkelheit hinter den Säulen dadurch noch intensiver erscheinen ließen. Die Säulen reichten bis zum Obergeschoß, dessen Geländer ebenfalls aus kunstvoll gearbeitetem Marmor bestand. Am Ende des roten Teppichs befand sich eine waghalsig verschlungene Treppe zu dem offenen, terrassenähnlichen Obergeschoß. Die erste Stufe der Treppe war mir direkt zugewandt, während der Rest des Gebildes eine eineinhalbfache Rechtsdrehung beschrieb und an dem linken Rand des ersten Stocks, mindestens 5 Meter über mir, endete. In der Mitte der seltsamen Konstruktion wand sich eine in sich gedrehte, noch monströser wirkende Marmorsäule bis an die schier endlos hohe Decke.
Außer der Eingangshalle schien das Gebäude keine weiteren Räume im Erdgeschoß zu haben. Weder an den Seiten, noch hinter der monströsen Treppe konnte ich eine Tür oder einen Durchgang erkennen. Als ich ein paar Schritte weiter in den Raum hineinging, konnte ich an der Rückseite der Treppe ähnlich gewundene Stufen in die Tiefe führen sehen, jedoch auch hier keine ebenerdige Tür. Die Struktur des Gebäudes schien ausschließlich auf den Keller und das Obergeschoß ausgelegt zu sein. Und bewohnt war es allem Anschein nach auch nicht. Bis auf das leise Knistern der Fackeln konnte ich kein anderes Geräusch ausmachen. Vielleicht kam es mir auch nur so vor, da sich die meisten Geräusche eh in der Größe der Burg verlaufen mussten.
Warum ich überhaupt hier war, war mir jedoch immer noch schleierhaft. Das Beste war wohl, wenn ich die Burg durchsuchen würde. Kurz entschlossen trat ich auf die Treppe zu und begann die Stufen hinaufzugehen. Das Obergeschoß war als erstes dran. Obwohl es eigentlich keinen Sinn hatte, achtete ich beim Gehen pedantisch darauf, möglichst wenige Geräusche zu verursachen. Vielleicht wohnte ja doch jemand hier und wahrscheinlich würde dieser jemand nicht gerade begeistert sein, wenn ich in seinen Räumlichkeiten herumstöberte.
Oben angekommen bestätigte mir der Anblick meinen ersten Eindruck. Hier oben befanden sich auf dem ungeschlossenen Rundgang knappe zehn Türen, die in alle Richtungen führten. Zwischen den Türen hingen dieselben Fackeln wie unten und verstreuten die gleiche, fast schon unheimliche Atmosphäre von rötlichem Halbdunkel. Die Türen waren ohne Ausnahme geschlossen und sahen allesamt gleich aus. Es gab keine Abweichung, nicht irgendeine Doppeltüre in der Mitte, wie man es eigentlich erwartet hätte, nur die, im Vergleich fast schon lächerlich klein wirkenden, einfachen Holztüren. Es schien mir das Beste zu sein, systematisch vorzugehen und die Räume der Reihe nach abzusuchen. Irgend etwas Besonderes musste an diesem Gebäude sein. Die Umstände, unter denen mich dieses Licht hierher geführt hatte, und die blosse Anwesenheit dieser Burg waren zu merkwürdig, als daß es einfacher Zufall sein könnte. Langsam drückte ich die Klinke der Tür am linken Ende des Wandelgangs, die ich als die Erste auserkoren hatte, nach unten und zog sie einen Spalt breit auf, so daß ich in das Zimmer dahinter blicken konnte.
Der Anblick war entgegen all meiner Erwartungen nicht allzu aufregend. Das verhältnismäßig kleine Zimmer, vielleicht fünf auf sechs Meter entsprach haargenau dem Bild eines Einzelzimmers, das man bei einer reich ausgestatteten, mittelalterlichen Burg immer vor Augen hatte, jedoch nichts außergewöhnliches: Am Boden ein roter Teppichboden, auf dem einer dieser uralten Ohrenbackensessel, zusammen mit einem kleinen Nachttischchen standen. An den Wänden ebenfalls Teppiche, jedoch von einem etwas dunkleren Rot-ton, unterbrochen von den hier allgegenwärtigen Fackeln. Was sich an der linken Seite des Raums befand, konnte ich von meinem Standpunkt aus nicht erkennen, also zog ich kurz entschlossen die Tür ganz auf und betrat den Raum. Doch auch die andere Wand bot keinen überwältigenden Anblick. An ihr stand ein völlig leerer Schreibtisch und daneben ein um so vollgestopfteres Bücherregal, bei dem es schon ein Wunder war, daß es nicht allein durch das Gewicht der Bücher in sich zusammenbrach. Gegenüber des Regals, an der rechten Wand, hing das letzte Einrichtungsstück des Raums, ein Spiegel, in dem der Rest des Raums hinter mir zu erkennen war. Die Decke war auch hier, genauso, wie in der Halle, aus recht schlichten, dunklen Holzbrettern, die von allen Ecken zur Mitte hin liefen, gefertigt.
Ansonsten war der Raum leer. Auch in dem Sessel saß kein Pfeife rauchender Mann, wie es die Atmosphäre eigentlich versprach. Mit einem letzten flüchtigen Blick streifte ich noch einmal den Tisch, der tatsächlich vollkommen leer war und verließ dann den Raum. Ich hatte ehrlich gesagt etwas mehr erwartet, allein schon durch die pompöse Haupthalle hatte ich angenommen, ebenso ausgestattete Zimmer vorzufinden. Doch ich konnte mich auch täuschen. Immerhin hatte ich im Obergeschoß noch sieben weitere Zimmer, die ich noch nicht untersucht hatte. Enttäuscht und gleichzeitig gespannt, was ich im nächsten Raum finden würde, schloß ich die Tür wieder und ging zur nächsten der insgesamt acht Türen. Ich verfuhr beim Eintreten genauso leise, wie zuvor, doch als ich durch den gerade geöffneten Spalt sah, verschlug es mir die Sprache und verwundert riß ich die Tür auf. Der Raum sah genauso aus, wie der vorige. Derselbe rote Teppich auf dem derselbe Sessel stand; auch das Regal und der Schreibtisch waren mit denen im anderen Raum gleich. Aber die Gegenstände sahen nicht nur ähnlich aus, sie waren völlig identisch und standen sogar an den gleichen Stellen in der gleichen Position. Nicht einmal, als ich das ebenso vollgestopfte Bücherregal genauer betrachtete, konnte ich einen Unterschied feststellen. Es kam mir vor, wie wenn ich wieder in genau dem gleichen Zimmer wie zuvor stehen würde. Verwirrt, fast schon erschrocken ging ich wieder aus dem Raum und auf die nächste, dritte Tür zu. Ohne auf irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen zu achten drückte ich lautstark die Klinke herunter und riß die Tür auf. Ich hatte es schon fast erwartet: Auch dieser Raum glich den anderen beiden bis ins kleinste Detail. Nicht ein die geringste Abweichung war zu erkennen. Verärgert ließ ich die Tür offen und ging zur nächsten. Auch hier erwartete mich kein anderer Anblick. Wieder das gleiche Szenario von einem, meinem Geschmack nach schlecht eingerichteten Wohnzimmer. Es war wie verhext, wie wenn jede der Türen ein Portal wäre, das in ein und denselben Raum führt. Das war absurd. Mit einer ärgerlichen Handbewegung wischte ich den Gedanken weg. Der Bauherr hatte sich damit vermutlich nur einen architektonischen Trick einfallen lassen und ich musste zugeben, er hatte perfekt funktioniert. Aber das konnte ich auch leicht herausfinden. Fast schon erheitert über meinen genialen Einfall ging ich zur achten Tür auf der rechten Seite des Wandelgangs und betrat den Raum, der natürlich wieder das gleiche Aussehen wie die anderen hatte. Ich ging zu dem Regal und entnahm ihm irgendein Buch, das erste, das ich in die Finger bekam. Es war ein Roman über irgendeine fehlgeschlagene Beziehung mit dem Titel "Das Haus der Schwestern", was mich wirklich nicht interessierte. Nachdem ich es dekorativ auf dem Schreibtisch plaziert hatte, verließ ich den Raum und ging eine Tür weiter nach links. Auch wenn ich mir ganz sicher war, daß meine Vermutung von den Portalen absolut schwachsinnig war, so brauchte ich doch diesen einen Beweis, um mich selbst davon zu überzeugen. Langsam öffnete ich die Tür und konnte erleichtert feststellen, daß auf diesem Schreibtisch kein Buch lag. Es befand sich, wenn auch an genau der gleichen Stelle, wie das andere, in dem Regal. Beim Gehen fiel mir jedoch etwas anderes an diesem Raum auf. Vielleicht war es nur Einbildung, aber irgend etwas stimmte hier nicht. Es war nichts sichtbares, die Einrichtung war wieder einmal genauso, wie in den anderen Räumen. Es war irgend etwas anderes - ein Gefühl, das ich hatte, wenn ich durch das Zimmer blickte. Auch wenn ich nichts erkennen konnte, so war ich mir doch sicher, daß in diesem etwas verborgen war, was in den anderen nicht da war. Ich ließ noch einmal, dieses Mal sehr viel gründlicher und länger meinen Blick über alle Gegenstände gleiten, und blieb schließlich an dem Spiegel an der rechten Wand hängen. Das war es, von diesem Spiegel ging das Gefühl aus, das in mir ein leichtes Kribbeln verursachte. Ich näherte mich dem Spiegel, doch es war nichts besonderes zu erkennen, nur der Schreibtisch und das Bücherregal und, als ich mich direkt vor den Spiegel stellte, ich selbst. Erst, als ich mich so drehte, daß ich die linke Ecke des Raums neben der Tür im Spiegel erkennen konnte, sah ich, was nicht stimmte.
Die Ecke war keineswegs leer, in ihr stand ein großer Marmorwürfel, in dem ein Schwert steckte. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah. Verwirrt, drehte ich mich um und starrte an die Stelle, an der ich den Stein gesehen hatte, doch es war nichts da. Noch verwirrter sah ich mir die Erscheinung wieder im Spiegel an. Neben dem Würfel konnte ich sogar die Scheide des Schwertes ausmachen, die an den Stein gelehnt dalag. Das konnte einfach nicht sein. Ich musste dem auf den Grund gehen. So prägte ich mir aufs genaueste die Position des Steinblocks ein und ging dann darauf zu. Langsam streckte ich die Hand nach der Stelle aus, an der ich den Griff des Schwerts vermutete. Auf halbem Weg stieß ich gegen ein unsichtbares Hindernis. Ich musste mich verschätzt haben, was die Stelle des Steinblocks anging. Verwirrt ertastete ich den durchsichtigen Griff des Schwertes und griff mit der ganzen Hand zu. Der Stoffüberzug fühlte sich warm und gleichzeitig kalt durch das Metall darunter an. Mit einem schnellen Ruck zog ich das Schwert nach oben und aus dem Stein heraus. Plötzlich strahlte die Klinge des Schwerts hell auf. Ein grelles gelbes Licht, das in den Augen weh tat. Erschrocken blickte ich weg, doch so schnell, wie das Licht gekommen war, war es auch schon wieder verschwunden, und das Schwert war sichtbar. Es hatte allem Anschein nach durch die Berührung seine Unsichtbarkeit verloren und ich konnte es mir jetzt genauer ansehen. Ich kannte diese Art von Schwertern. Es war ein Bastard-Schwert, ein Ein-Einhalbhänder mit der dafür typischen, ungefähr einen Meter langen beidseitig geschliffenen Klinge. Das Metall sah seltsam dunkel aus, nicht wie normaler Stahl, sondern kälter. Das Licht brach sich anders auf der Oberfläche der Waffe und ließ es in einem unnatürlichen Glanz erscheinen. Das Heft war sehr kunstvoll gearbeitet, auch wenn es keinerlei Verzierungen verschönerten, außer zwei äußerst spitzen Stacheln, die in Richtung der Klinge etwas schräg abstanden, jedoch waren das wahrscheinlich auch keine Verzierungen, sondern eher eine weitere nette Vorrichtung, die die Waffe um so gefährlicher werden ließ. Der Griff war nicht von Stoff umhüllt, wie ich zuvor angenommen hatte, sondern von einem äußerst dünnen, dunkelblauen Faden so lange umwickelt worden, bis das Metall darunter nicht mehr zu erkennen war und es sich wie Stoff anfühlte. Als ich das Schwert lange genug betrachtet hatte, sah ich mir die Scheide an, die jetzt ebenfalls sichtbar an den Stein gelehnt vor mir am Boden lag. Sie war ebenso verzierungslos, wie die Waffe selbst. Eine einfache, kurze Lederhülle mit einer Schnalle um sie am Gürtel festzumachen. Gedankenverloren legte ich den daran gehängten Gürtel um und steckte das Schwert in die Scheide.
Ein sonderbares Gefühl überkam mich. Ich dachte überhaupt nicht daran, daß das Diebstahl war, was ich im Begriff war zu tun. Es war wie selbstverständlich, daß ich dieses Schwert gefunden hatte und ich war mir sicher, daß es nur für mich hier gewesen war. Woher ich diese Sicherheit nahm, konnte ich jedoch nicht sagen. Ich trat noch einmal vor den Spiegel, gerade rechtzeitig, um mitanzusehen, wie der Marmorblock wieder in Unsichtbarkeit verschwand, diesmal jedoch vollkommene Unsichtbarkeit. Er war nicht einmal mehr durch den Spiegel zu sehen. Wie ein routinierter Schwertkämpfer ließ ich ein paar Mal das Schwert in die Hand schnellen und steckte es dann wieder zurück. Erst jetzt bemerkte ich, wie perfekt die Waffe ausgewogen war. Es musste den Schmied eine Unmenge an Arbeit gekostet haben, dieses Schwert herzustellen. Die Klinge war so meisterhaft ausgewogen, daß ich ihr Gewicht fast nicht spürte. Es fühlte sich an, wie eine natürliche Verlängerung meines Arms, mit der ich auch genauso schnell und präzise umgehen konnte. Ich musste meinen vorigen Gedanken berichtigen, der Schmied musste nicht nur sehr viel Zeit gebraucht haben, er musste auch ein absolutes Genie sein. Zum einen Teil erfreut über meinen Fund, zum anderen Teil immer noch verwundert, was es mit diesen Räumen auf sich hatte, verließ ich nun endgültig das Zimmer und ging wieder auf den Wandelgang hinaus, als ich plötzlich eine Stimme hinter mir hörte.
"Gib mir, was mir gehört!"
Die Stimme war dunkel und klang verzerrt, irgendwie unwirklich und falsch, nicht so wie eine Stimme, wie sie eine menschliche Kehle hervorbringen könnte. Abrupt blieb ich stehen und drehte mich langsam um. Als ich sah, was diese merkwürdigen Laute ausgesprochen hatte, gefror mir das Blut in den Adern. Es war ein Zombie. Eine groteske Kreatur, die auf staksigen Beinen halb im Dunkeln neben der Tür stand. Die Haut hing in Fetzen von dem verunstalteten Körper und allein die verdrehte Haltung sprach allem Hohn, was dieses Ding überhaupt noch auf den Beinen hätte halten können. Warum sich seine Stimme so unwirklich anhörte, konnte ich jetzt auch sehen. Vom Hals des Ungeheuers fehlte ein faustgroßes Stück, so daß die Stimmbänder freilagen. Der Anblick war grausam. Nicht nur das furchtbare Aussehen, sondern auch, daß das Wesen, obwohl es schon halb verwest war, sich trotzdem noch bewegen und sprechen konnte.
Wie versteinert blieb ich stehen und starrte die Kreatur an. Als der Zombie merkte, daß ich mich nicht bewegen würde, wiederholte er seine Worte, diesmal langsamer und eindringlicher. Der unwirkliche Klang blieb jedoch weiterhin.
"Gib mir, was mir gehört!"
Als ich mich weiterhin keinen Millimeter rührte, machte das Wesen einen Schritt auf mich zu und trat somit vollends ins Licht. Der Anblick war weit verheerender, als ich zuerst angenommen hatte und automatisch wich ich zurück.
Erst jetzt fiel mir ein, was der Zombie wohl meinen könnte. Wahrscheinlich war er der Vorbesitzer des Schwertes, das ich umhängen hatte. Er dürfte nicht sehr erfreut darüber sein, daß ich dieses Meisterstück an mich genommen hatte. Langsam zog ich das Schwert aus der Scheide. Der Zombie reagierte sofort.
"Jaaaa, gib es mir!"
Er streckte die verweste Hand, an der schon an mehreren Stellen das Knochengerüst zu sehen war nach dem Heft des Schwerts aus. Der gierige Blick in seinen toten Augen, die dennoch etwas ähnliches wie Leben ausstrahlten, wurde noch durchdringender. Was sollte ich machen. Zum einen war ich der Eindringling hier, und somit eigentlich im Unrecht, zum anderen wollte ich meinen Fund auch nicht an diese abstoßende Kreatur geben, die wahrscheinlich schon seit Jahrhunderten hätte tot sein müssen. Doch meine Entscheidung war schon längst gefallen.
Das einzige, was ich antwortete, war ein kurzes "Nein!", in das ich jegliche Überzeugung legte, die mir beim Anblick des Zombies noch blieb.
Seine Mine verfinsterte sich:
"Dann stirb!"
Mit einem kraftvollen Satz sprang mich der Zombie an, mitten in das Schwert, das ich noch immer in der Hand hielt. Dummerweise machte ich den Fehler zur Seite auszuweichen, sonst hätte sich das Monster selbst an der Klinge aufgespießt. So jedoch drehte ich mich nach links weg und riß in der gleichen Bewegung das Schwert mit, so daß es meinem Gegner in den Rücken fahren musste. Doch der war schon längst nicht mehr da. Mit einer Schnelligkeit, die ich diesem halb verwesten Stück Fleisch niemals zugetraut hätte, war er ebenfalls zur Seite ausgewichen und stand mir jetzt wieder gegenüber, jedoch etwa drei Meter entfernt.
Er griff mich an. Diesmal aber war ich vorbereitet. Kurz bevor mich seine knochigen Hände erreichen konnten, machte ich einen schnellen Schritt zur Seite und ließ das Ungeheuer ins Leere laufen. Mit dem gleichen Trick wie zuvor wirbelte ich das Schwert herum und schmetterte es auf den Rücken des Zombies. Dieses Mal traf ich. Mit einem ekelhaften, saugenden Geräusch schnitt die Klinge tief in das Fleisch des Zombies und mit einem mindestens ebenso ekelhaften Schmatzen schnitt ich noch weiter in die Wunde, als ich das Schwert mit einem kräftigen Ruck zur Seite herauszog.
Durch den Aufprall wurde das Monster zu Boden geworfen und ich hatte auch erwartet, daß es dort liegenbleiben würde, doch das genaue Gegenteil geschah. Ohne Verzögerung, ohne irgendwelche Anzeichen von Schmerz rappelte es sich auf und starrte mich im Knien an.
"Du kannst mich nicht besiegen." Sagte er langsam und mit einem drohenden Unterton.
Noch bevor ich etwas antworten konnte, oder auch nur die Zeit gefunden hätte, mir eine Antwort zu überlegen, sprang mich der Zombie von unten her an, die rechte Hand zum Schlag erhoben. Aber meine Reaktion kam schneller. Als er mit der flachen Hand zuschlug, hob ich das Schwert an, so daß er genau in die Klinge schlug. Auch das schien ihm keinerlei Schmerzen zu bereiten, doch ich ließ ihm keine Zeit. Noch glaubte er sich völlig überlegen und machte Fehler, so wie jetzt, da er weder versuchte, seine Hand zu befreien, noch auf die Idee kam, die andere zu Hilfe zu nehmen. Der Kampf musste jetzt entschieden werden. Eine längere Konfrontation würde ich nicht überleben, soviel war mir klar. Mit einem schnellen Ruck zog ich das Schwert zur Seite aus seiner Hand heraus, so daß eine häßliche, weit aufklaffende Wunde im Muskelfleisch des Zombies zurückblieb. In der gleichen Bewegung, den Schwung meiner Drehung ausnutzend, wirbelte ich herum, faßte dabei auch noch mit der anderen Hand an den Griff des Schwerts und drehte die Klinge so hin, daß sie genau in Kopfhöhe des Zombies einen flirrenden Halbkreis bildete.
Ich hatte mich nicht verschätzt, oder besser gesagt, der Zombie hatte sich überschätzt. Die Klinge fuhr mit einem harten Ruck, der mir fast die Waffe aus der Hand prellte genau in den Hals des Ungeheuers und trennte mit einem häßlichen Reißen seinen Kopf ab.
Angewidert sah ich weg, es war einfach zu viel. Ohne den Körper auch nur ein einziges weiteres Mal anzusehen steckte ich die blutverschmierte Waffe wieder zurück und ging die gewundene Treppe hinab, zurück zur Eingangshalle.
Was war das eigentlich für ein Ding? Diese furchtbare Kreatur ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich hatte nie an Zombies, Dämonen oder derartige Wesen geglaubt. Als Hobby hatten sie mich interessiert, ja, aber das hier war alles andere als ein pures Hobby, es war die nackte Realität. Allein der Gedanke, daß Zombies existieren sollten, war so unvorstellbar, daß sich irgend etwas in mir dagegen wehrte, ihn überhaupt richtig zu erfassen. Aber ich hatte den lebenden, oder besser gesagt, zum wiederholten Male nicht mehr lebenden Beweis selbst gesehen. Ich war schon fast soweit, noch einmal nach oben zu gehen, um mich zu vergewissern, daß es doch nicht nur Einbildung gewesen war. Doch dazu fehlte mir der Mut. Ich hatte den Satz des Zombies noch nicht vergessen "du kannst mich nicht besiegen..."
Ich wollte nicht unbedingt herausfinden, ob das nicht doch mehr als nur eine leere Drohung war. Im Grunde genommen wollte ich einfach nur noch weg von hier. Mit einem letzten Blick auf die Treppe ging ich in Richtung des großen Haupttores. Doch mitten im Gehen blieb ich erneut stehen. Irgend etwas hielt mich zurück. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich etwas vergessen, etwas wichtiges. Ich wußte nicht, was es war, oder auch nur sein könnte, doch eine innere Stimme, vielleicht sogar die gleiche wie die, die mich hierher gebracht hatte, sagte mir, daß ich noch etwas zu tun hatte.
Verwirrt sah ich mich um. Vielleicht sollte ich doch noch ein bißchen hier bleiben, sonst würde dieses merkwürdige Gefühl wahrscheinlich nie aufhören. Ich ließ meinen Blick ein weiters Mal über die Säulenhalle streifen, konnte jedoch immer noch nichts ungewöhnliches entdecken, außer der Tatsache, daß dieses Gebäude überhaupt existierte.
Bis ich wieder zur Treppe sah. Ohne, daß ich wußte, warum, blieb mein Blick an dem Gebilde aus Marmor hängen. Dort musste etwas sein. Auch auf die Gefahr hin, daß ich eine weitere unliebsame Begegnung mit dem Zombie eingehen könnte, ging ich wieder auf die pompöse Treppe zu. Doch dieses Mal ging ich nicht die Stufen hinauf, sondern umrundete die große Säule. Das war es, was ich vergessen hatte, der Keller. Ich hatte zwar noch immer keine Ahnung, warum mir dieses Vergessen so wichtig vorkam, doch mein Gefühl sagte mir, daß mich irgend etwas wichtiges erwarten würde, vielleicht noch interessanter, als das Bastard-Schwert, daß noch immer, fast schon wie selbstverständlich an meinem Rücken hing. Überrascht über meinen eigenen Mut, der so überhaupt nicht dem entsprach, was ich beim Anblick des Ungeheuers im ersten Stock empfunden hatte, begann ich langsam und fast schon pedantisch darauf achtend, möglichst wenig Geräusche zu verursachen, die gewundenen Treppenstufen hinabzusteigen. Die Lichtverhältnisse waren hier noch schlechter, als in der Halle, da die Erbauer wohl ein wenig an Fackeln und sogar an Fackelständern gespart hatten, als sie diesen Abgang konstruiert hatten.
Nach einem Abstieg von etwa zwanzig Stufen, der mir wie eine halbe Ewigkeit vorkam, da ich sehr langsam dahinschlich, gab ich es auf und ging ganz normal weiter, da ich bisher noch kein Ende der Treppe erkennen konnte, obwohl das nicht viel heißen musste. Der Winkel, in dem sich die Stufen nach unten wanden, war so groß, daß ich vielleicht sechs oder sieben Stufen weit sehen konnte. Außerdem hätte, wenn noch jemand (oder etwas?) hier hauste, dieser jemand mich schon längst hören müssen, als ich von dem Zombie weg die Treppe hinunterrannte.
Die Treppe führte wirklich Ewigkeiten in die Tiefe. Das Zählen hatte ich schon nach kurzer Zeit ebenfalls aufgegeben, da ich nicht mehr die Konzentration dazu aufbringen konnte. Ich wollte endlich wissen, was sich am Ende dieser Treppe befand. Doch meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Die Stufen schienen kein Ende zu nehmen.
Doch endlich, nach gut zwanzig Minuten, die mir wie zwanzig Stunden vorgekommen waren und die mich den Rest an Geduld hatten verlieren lassen, erreichte ich das Ende. Im Gegensatz zu allem, was ich erwartet, oder besser gesagt erhofft hatte, war der Gang, in dem ich mich jetzt befand alles andere als spektakulär. Die Treppe hörte einfach auf eine Treppe zu sein und führte in einen langen, geraden Flur, der vom Aussehen der Wände her den Wänden der Treppe zum Verwechseln ähnlich sah. Was aber nicht hieß, daß sie völlig identisch waren. Es waren hier zur Abwechslung wieder mehr Fackeln angebracht, die den Gang in regelmäßigen Abständen in ein angenehmes, leicht flackerndes Licht tauchten. Wie weit der Gang genau führte, konnte ich nicht genau erkennen, da das Licht weiter hinten wieder abnahm. Auf jeden Fall musste er sehr lang sein, soviel konnte ich auch so erkennen.
Unentschlossen ging ich weiter. Was sollte ich auch sonst tun? Um ohne auch nur irgend etwas hier unten gesehen zu haben, was den wohl noch qualvolleren Aufstieg lohnen würde, war mir der Rückweg einfach zu weit. Also schritt ich den Gang entlang.
Minuten später erreichte ich endlich die dunkle Stelle, die ich zuvor ausgemacht hatte und mein Verdacht bestätigte sich, hier führte der Gang nicht mehr einfach nur geradeaus weiter, sondern zweigte alle fünf bis sechs Meter zu beiden Seiten ab. An den Gabelungen waren Holztüren, die mich erschreckend an die im ersten Stock erinnerten, doch was sollte das schon bedeuten - schließlich war es dasselbe Gebäude. Innerlich hoffte ich natürlich, daß ich nicht wieder hinter jeder dieser Türen ein und denselben Raum finden würde.
Ich verlangsamte meine Schritte und schlich mich an der Mauerwand entlang zur ersten der Türen hin. Lautlos zog ich das Schwert aus seiner Scheide und behielt es in der Rechten. An die Wand gedrückt streckte ich die andere Hand aus, drückte die Klinke herunter und in der gleichen Bewegung die Tür nach innen etwas auf. Sofort anschließend machte ich eine Halbdrehung herum, stieß die Tür ganz auf und legte auch die zweite Hand an den Griff des Schwerts. Doch es war hier nichts, was mich hätte angreifen können. Der Raum war leer. Im wahrsten Sinne des Wortes leer. Außer den nackten Wänden befand sich absolut nichts hier.
Enttäuscht drehte ich mich um und ging wesentlich unvorsichtiger zur nächsten Tür hin. Ich verfuhr mit ihr genauso, wenn auch diesmal bedeutend schneller und sehr viel lauter. Diesmal wurde ich nicht enttäuscht.
Ein mannshoher Spiegel, der in die Wand zu meiner Linken eingelassen war, erregte meine Aufmerksamkeit. Neugierig steckte ich das Schwert weg und ging auf ihn zu und untersuchte die goldenen Verzierungen, mit denen der Rahmen ausgestattet war. Es war ein wertvolles Stück, soweit ich erkennen konnte, doch viel mehr verwunderte mich der Baustil. Er paßte absolut nicht in die eintönige und mittelalterliche Einrichtung des Schlosses, denn er sah sehr viel älter aus, fast schon zu alt, um noch in eine Zeit zu passen, in der es möglich war, Gold so fein zu verarbeiten. Dennoch war nicht ein einziger Kratzer auf dem meisterhaft gefertigten Rahmen zu finden. Als ich schon fast mit meiner Inspektion fertig war, bemerkte ich eine Bewegung in dem gespiegelten Raum in den Augenwinkeln. Erschrocken wandte ich mich um, konnte jedoch nichts entdecken. Also wandte ich mich wieder der von der Seite etwas silbern glänzenden, glasglatten Fläche zu. Mit einem zögernden Schritt stellte ich mich genau vor den Spiegel und atmete erleichtert auf, als ich nur mein Spiegelbild zu sehen bekam, wie wenn ich etwas anderes erwartet hätte. Langsam entfernte ich mich wieder von meiner eigenen, erschrocken wirkenden Gestalt und wandte mich dem Ausgang zu. Doch die Bewegung wiederholte sich, diesmal deutlicher und größer, jedoch nur in dem Spiegelbild zu sehen. Meine Neugierde erwachte wieder und ich blieb stehen, die reflektierende Glasfläche beobachtend. Ich musste nicht lange warten, bis es wieder geschah, eine winzige Bewegung, genau in der Mitte des Spiegels und nicht auf die Umgebung bezogen, wie ich zuerst gedacht hatte, sondern in der Spiegelfläche selbst. Mit einem großen Schritt stand ich direkt vor der Oberfläche und streckte den Finger nach der Stelle aus, an der ich die Bewegung ausgemacht hatte. Ich spürte schon die Kälte, die von dem Material ausging, kurz bevor ich das Glas berührte, als sich die Bewegung ein viertes Mal wiederholte, wesentlich größer als zuvor und genau vor meinem Finger. Doch dieses Mal verschwand die leichte Kräuselung auf der ansonsten völlig ebenen Oberfläche nicht mehr, im Gegenteil, sie wurde größer und heftiger. Als die wasserähnliche Erscheinung ungefähr fünf Zentimeter groß war, hatte ich meinen Finger längst wieder zurückgezogen und betrachtete das Ganze aus einem sicheren Abstand von gut zwei Metern. Aus der runden Verwirbelung krochen jetzt dünne, weiße Stränge, die sich langsam, aber stetig nach außen wanden. Sie wurden dicker und verzweigten sich immer mehr, bis die gesamte ehemalige Spiegelfläche aussah, als ob dahinter ein absolut dichter Nebelteppich hängen würde.
Als sich kurz darauf der Nebel lichtete, erstreckte sich vor mir ein langer runder Gang mit roh behauenen Steinwänden, der scheinbar endlos in die Tiefe führte. Dieser Anblick allein war schon skurril genug, doch dann begannen auch noch die Wände zu pulsieren, sich zu verbiegen und verformen. Es schien, als wäre das Kälte ausstrahlende Gestein aus Fleisch und Blut, und nicht das, wonach es aussah. Aus fast schon wissenschaftlicher Neugier und, zu meiner eigenen Überraschung keinerlei Furcht empfindend, trat ich noch einen Schritt näher. Ich erkannte zwischen den Steinbrocken, die lose aus der Wand ragten, winzige, pulsierende Stränge, wie Adern, die sich durch den Fels zogen. Die Wände schienen tatsächlich die Haut eines Urtiers zu sein, das unterirdisch unter dem Schloß lebte.
Nachdem ich lange genug die seltsame Erscheinung in dem alten Spiegel betrachtet hatte, wollte ich mich wieder abwenden und den gleichen Weg zurückgehen, auf dem ich gekommen war. Doch in diesem Moment bemerkte ich etwas neues, helles am Ende des Tunnels. Es war nur ein kleines Licht, das von schier ewiger Entfernung zu mir drang, doch es wurde stärker, oder besser gesagt, es kam näher.
Ein absolut weißes Licht das mit rasendem Tempo durch diesen unwirklichen Tunnel direkt auf mich zukam.
Ich trat einen Schritt zurück und wollte wegrennen, doch ich konnte nicht. Mit aller Willenskraft versuchte ich mich von dem wahnsinnigen Anblick der immer größer werdenden, wabernden und unheimlich hell leuchtenden Wolke wegzureißen, doch eine ungleich stärkere Macht wischte meine Anstrengungen beiseite wie die eines kleinen Kindes und zwang mich wie gefesselt stehenzubleiben und auf die beängstigende Energiekugel zu starren. Mein gesamter innerer Kampf hatte nur Augenblicke gedauert, dennoch blendete mich das Licht schon so stark, daß es schmerzte. Ich schloß meine Augen.
Nur Bruchteile von Sekunden später war die Nebelwand heran. Ich konnte nur spüren, wie sich ein kalter Schauer über meine Haut legte. Und blitzartig wurde das Licht stärker. In einem einzigen Augenblick wurde es so hell, daß sich das Licht wie brennende Pfeile durch meine Augen direkt in mein Gehirn zu bohren schien. Der Schmerz ließ mich aufschreien und plötzlich spürte ich, wie ich von den Füßen gerissen wurde. Ein dumpfer Schlag an meiner Schulter ließ mich erneut unter Schmerzen aufschreien und das letzte, an was ich mich erinnern kann, war, wie ich mit unglaublicher Geschwindigkeit in den Tunnel gezogen wurde, bevor ich in tiefe Bewußtlosigkeit fiel.

Nur mühsam konnte ich die dunklen Nebelschwaden der Bewußtlosigkeit beiseite drängen, die meinen Geist gefangen hielten. Ich konnte nicht sagen, wie lange ich bewußtlos gewesen war - ob Stunden oder Tage, oder nur ein paar Sekunden - es machte keinen Unterschied. Das einzige, was ich registrierte war ein immer noch helles Licht, das durch meine geschlossenen Augenlider drang und ein pochender Schmerz in meiner linken Schulter. Es war also doch keine Einbildung. Langsam öffnete ich die Augen und sofort fraß sich ein grelles Licht in meine Pupillen und entflammte einen stechenden Schmerz hinter meiner Stirn. Nur quälend langsam gewöhnten sich meine Augen an die Helligkeit. Doch auch jetzt konnte ich nichts weiter als Licht sehen. Absolutes Weiß. Keinerlei Konturen oder Abstufungen, nur reinstes Weiß. Mit einer Bewegung, die einem Kraftakt glich stemmte ich mich auf die Füße und blickte mich um. Nichts. Wohin ich mich wandte einfach nichts, als ob ich in einem riesigen runden Raum wäre, der von allen Seiten gleich stark ausgestrahlt wurde.
"Wo bin ich hier...." murmelte ich vor mich hin.
"An deiner Bestimmung!"
Diese Stimme. Die gleiche Stimme wie aus meinem Traum. Es war kein Zufall gewesen. Ich wurde von Anfang an hierher gelockt, aber warum? Genau das war die Frage, die ich beantwortet haben wollte.
"Warum bin ich hier? Warum hast du mich hierher geführt? Und wo zum Teufel bin ich überhaupt???"
"An einem Ort, der nicht existiert"
"Danke! Wie informativ. Und warum bin ich hier?"
Ich konnte es allmählich nicht mehr ausstehen. Meinem unsichtbaren Gegenüber schien es Spaß zu machen, jeder Frage auszuweichen und genau das machte mich rasend. Ich beschloss einfach nicht mehr auf das Spielchen einzugehen. Endlich kam eine Antwort:
"Weil es dein Schicksal ist."
"Schön für mich."
"Das wird sich zeigen."
"Dann kann ich ja ganz beruhigt darauf warten. Und zwar ohne sinnfreie Diskussionen."
Mit einem gespielt resignierenden Blick setzte ich mich auf den weißen Boden und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Wie du willst, so sollst du nichts weiteres über deine Zukunft erfahren, sei bereit!"
Schon wieder so ein pathetischer Satz, ich würdigte ihn nicht einmal eines Achselzuckens.
Als ob das Etwas, das mich hier zu verwirren versuchte, noch auf eine Antwort gewartet hätte, geschah ein paar Sekunden lang nichts, bis das Licht auf einmal verschwand.

Es umgab mich wieder Dunkelheit, wie in den Träumen zuvor, doch ich war mir sicher, daß ich nicht träumte. Dazu schmerzte meine Schulter viel zu sehr. Wie auf ein Stichwort hin schoß ein stechender Schmerz durch meine Schulter. Blind tastete ich sie ab und zog erschrocken meine Hand zurück, als ich die Stelle gefunden hatte. Warmes Blut klebte an meiner Hand.
Angeekelt starrte ich auf meine Hand. Allmählich gewöhnten sich meine Augen nach der brennenden Helligkeit an das Dunkel. Ich hatte mich geirrt, es war nicht absolut dunkel und ich war auch nicht mehr in dem Traum gefangen. Nach und nach konnte ich die ersten Umrisse um mich erkennen, mein Hauptaugenmerk galt jedoch immer noch meiner Hand, an der tatsächlich leicht rötlich schimmerndes Blut klebte. Ohne mich zuviel zu bewegen wischte ich die Hand an meiner Hose ab und betrachtete meine Schulter. Es sah schlimmer aus, als es war, vermutete ich zumindest. Vorsichtig tastete ich die verwundete Stelle ab, um festzustellen, daß höchstwahrscheinlich nichts gebrochen war. Nur eine kleine Platzwunde, wie es schien. Beruhigt stützte ich mich wieder am Boden ab und fuhr erschrocken zurück. Ich saß nicht mehr auf einem Steinboden, so wie es sich anfangs angefühlt hatte, ich saß auf .... Gras.
Ein weicher, warmer Humusboden mit dichtem Rasen darauf. Das Licht nahm weiter zu und ich konnte allmählich mehr Einzelheiten erkennen, auch wenn es immer noch nächtlich dunkel war.
Die Umgebung schien sich wie von Geisterhand vor mir aufzubauen. Ich befand mich inmitten einer kleinen Lichtung, eingeschlossen von Wald. So unwirklich die ganze Situation war, die Stille war noch unheimlicher. Kein Laut war zu hören, kein Blätterrauschen, keine Vögel, wobei das wohl eher an der nächtlichen Uhrzeit liegen musste, versuchte ich mir einzureden, und auch kein Knacken von Zweigen, das vielleicht irgendwelche Tiere hätten verursachen können. Einzig und allein meine eigenen Atemzüge waren zu hören.
Langsam, um den mittlerweile auf ein erträgliches Maß zurückgegangenen Schmerz in meiner Schulter nicht von neuem zu entflammen, stand ich auf und sah mich um.
Die Lichtung war in einen fast perfekten Kreis von dicht stehenden Bäumen eingeschlossen, hinter denen sich das spärliche Licht sofort verlor. Woher es überhaupt kam, war mir auch ein Rätsel, denn der Himmel war tiefschwarz. Doch wie so viele Fragen verschob ich auch diese auf später. Viel mehr interessierte mich der kleine Pfad, der an einer Stelle von der Lichtung wegführte.
Ohne lange zu überlegen ob es sinnvoll wäre, durchs Unterholz zu pflügen, ging ich darauf zu und betrat den Wald. Der Pfad war schmaler als ich gedacht hatte und ich musste nicht nur einmal die scharfe Klinge des Schwerts nutzen um mir einen Weg durch das Gehölz zu bahnen. Erschwert wurde die Aufgabe zusätzlich durch meine Verletzung. Doch irgendwie gelang es mir dem Weg zu folgen und schließlich öffnete sich das Dickicht wieder.
Was sich mir bot war ein überwältigender Anblick.
Ich befand mich wieder auf einer Lichtung, doch diese war ungleich größer und sie war fast komplett von einem See eingenommen.
Das Wasser strahlte in einem atemberaubenden Licht wie von selbst und tauchte die Umgebung in ein angenehmes, blaues, wellenartig wogendes Licht. Am gegenüberliegenden Ufer wurde der See von einem Wasserfall gespeist, der das schimmernde Licht, wo er auf die Seeoberfläche traf, in tausend funkelnde Splitter brach. Obwohl es Nacht war und nach allem, was ich in ihr schon erlebt hatte, strahlte dieser Ort eine so friedliche Stimmung aus, daß sich kein fühlendes Wesen dagegen wehren könnte. Verdutzt blieb ich stehen und ließ die Eindrücke auf mich wirken. Es war wie in einem Traum, nur unbeschreiblich schöner und realer. Ich hätte niemals erwartet, was ich hier vorgefunden hatte. Voller Andacht und behutsam, als würde ich das Gras selbst durch meine Schritte verletzen, ging ich zum Seeufer und kniete mich zum Wasser nieder. Es war glasklar und strahlte eine angenehme Kälte aus. Mit beiden Händen unterbrach ich die Wasseroberfläche und schöpfte etwas von dem Wasser ab. Auch jetzt noch war dieser ganze Ort von absoluter Stille überdeckt. Das Wasser, das zwischen meinen Fingern wieder zurück in den See tropfte verursachte kein einziges Geräusch und wenn doch, so wurde es von irgendetwas anderem verschluckt. Der Gedanke störte mich nicht weiter. Es passte zur Stimmung dieses Ortes und ich dachte nicht länger darüber nach.
Kniend fiel mein Blick jetzt jedoch auf etwas anderes: Mein Schwert. Im Spiegelbild auf dem Wasser konnte ich die dunkle Kruste getrockneten Blutes sehen, die auf der Klinge lag. Der Anblick war nicht sonderlich schön, da mich das Blut an die ekelhafte Kreatur erinnerte, von der es stammte. Eine bessere Gelegenheit würde sich mir so schnell nicht bieten, dachte ich, und zog das Schwert vom Rücken. Vorsichtig, um mich nicht selbst an der Klinge zu schneiden, säuberte ich sie von dem halbgetrockneten Blut, das sich kräuselnd mit dem Wasser vermischte und schließlich verschwand.
Ich war so gedankenverloren, daß ich die Gestalt nicht bemerkte, die sich mir von hinten näherte. Erst, als sie eine Hand in meine Richtung ausstreckte, bemerkte ich sie im Spiegelbild. Blitzschnell ließ ich mich zur Seite fallen und richtete die Klinge in die Richtung, in der ich die Gestalt vermutete, doch da war nichts. Es konnte keine Einbildung sein, ich war mir sicher, sie gesehen zu haben. Verwirrt sah ich mich um und da sah ich sie wieder. Eine hagere Gestalt, gehüllt in einen langen, wehenden Mantel stand am anderen Seeufer und starrte in meine Richtung. Eine Kapuze tauchte das Gesicht in vollkommene Dunkelheit.
Minutenlang, wie es mir schien, starrten wir uns nur gegenseitig an. Endlich löste ich mich aus meiner Erstarrung und stand auf. Immer noch mit dem Schwert in der Hand umkreiste ich den See, ohne meinen Blick auch nur für einen Moment von der Gestalt abzuwenden.
Ein paar Meter vor dem Verhüllten blieb ich stehen und rief:
"Wer bist du?"
Meine Stimme klang seltsam hohl. Ein unnatürliches Echo ließ sie klingen wie in einem kleinen Raum, und nicht unter freiem Himmel. Das musste zu der seltsamen Akustik gehören. Ich hoffte meine Stimme würde überhaupt hörbar sein und nicht nach kurzer Strecke verschluckt werden, so wie alle anderen Geräusche um mich herum. Doch dies war nicht der Fall, die Gestalt reagierte: Track "Steck deine Waffe weg."
Es war die gleiche Stimme, die ich zuvor schon vernommen hatte, bevor ich an diesen Ort gelangte. Ich wollte endlich wissen, wer sich dahinter verbarg.
"Sag mir erst, wer du bist."
"Der, den du suchst", sagte er und zog gleichzeitig in einer fließenden Bewegung seine Kapuze zurück.
Ich war auf alles gefasst. Ich hatte schon wieder den Anblick eines weiteren Zombies vor Augen, aber dieses Wesen hatte kein missgestaltetes Gesicht. Im Gegenteil - es sah freundlich aus. Dennoch war es definitiv nicht das eines Menschen. Es war sehr schmal, fast schon knöchern und an der Stirn befanden sich hornartige Auswüchse. Die Ohren liefen nach oben hin spitz zu, wie bei einem Elf. Als er die letzten Worte sprach konnte ich gerade noch vampirartige Eckzähne erkennen, die sich nun wieder hinter seinen blauen Lippen verbargen. Blaue Lippen... jetzt erst fiel mir der drastischste Unterschied zum Gesicht eines Menschen auf. Seine Haut war... blau. Mir blieb nicht fiel Zeit, mich darüber zu wundern, denn er sprach weiter:
"Wie ich sehe, hast du die Prüfungen bestanden.
Ich hatte schon befürchtet, du würdest den Weg nicht finden, oder einfach umkehren."
Mit offenem Mund starrte ich in sein Gesicht, ohne die Bedeutung der Worte wahrzunehmen.
"Ich werde dir nichts tun, steck bitte deine Waffe weg. Ich mag vielleicht einiges aushalten, aber gegen diese Waffe sind doch nur wenige gewappnet."
Verdattert wanderte mein Blick von dem blauen Gesicht zu dem Schwert in meiner Hand. Ohne es wirklich mitzubekommen steckte ich es zurück in die Scheide an meiner Seite und richtete meinen Blick wieder auf das fremde Gesicht..
"Danke. Ich denke, ich sollte mich vorstellen. Mein Name ist Urcóun."
Langsam gewann ich meine Fassung wieder. Dennoch war ich noch immer ziemlich verwirrt. Es war die gleiche Stimme wie in meinen "Träumen", aber die Art, wie er sprach war anders. Nicht mehr dieses geheimnistuerische. Viel zu spät fiel mir meine eigene Unhöflichkeit auf, doch das schien Urcóun nicht zu stören, jedenfalls ließ er es sich an seiner Mimik nicht anerkennen. Stotternd begann ich: ".. mein.. mein Name ist...", doch er unterbrach mich.
"Warte mit diesem Satz noch ein wenig, ich bin mir sicher, du hast vorher genügend Fragen, die du mir gerne stellen würdest."
"Wer.. bist du?" war das dümmste, das mir einfiel.
"Ich denke, dich interessiert viel mehr, was ich bin, oder?"
"Ähm.. ja."
"Meine Rasse wird Gargoyles genannt."
Mit diesen Worten streckte er die Hände, die mehr den Ausdruck Klauen verdient hätten, unter dem Mantel hervor und ließ ihn mit einer raschen Bewegung zu Boden fallen. Was sich darunter verbarg verschlug mir erneut den Atem. Seine gesamte Haut war von einem tiefen Blauton. Unter einer schwer aussehenden Kettenrüstung konnte man einen schlanken, aber dennoch sehr muskulösen Körper erkennen. Das auffälligste jedoch waren zwei gewaltige Schwingen an seinem Rücken, die er nun ausstreckte und sich anschließend um die Schultern legte.
Sichtlich amüsiert wartete Urcóun ab, bis ich meinen Mund wieder zugeklappt hatte und sprach dann weiter: "Gewöhn dich lieber schnell an diesen Anblick. Nun.. was meine Rasse ausmacht, wird dir wohl nicht entgangen sein. Alles weitere über uns sollst du selbst herausfinden. Ich denke, du wirst noch einiges wissen wollen, richtig?"
"Äh.. ja... woher kommst du?"
"Diese Frage ist schnell beantwortet. Meine Heimat ist England, und bevor du fragst, ich lebe seit langer Zeit hier wodurch ich auch eure Sprache beherrsche."
"Wie kommst du in meine Träume?"
"Das ist schon eine etwas schwerere Frage. Ich werde es dir erklären: Die Gargoyles sind kurz vor dem Aussterben. Es gibt nur noch sehr wenige von uns. Wenn nicht ein paar der wenigen unserer Freunde unter den Menschen eingeschritten wären, würde vielleicht schon jetzt keiner mehr von uns existieren. Diese wenigen waren keine gewöhnlichen Menschen, sondern gehörten den letzten verbliebenen Magiern an. Sie wollten nicht, daß unsere Rasse ausstirbt, so schlossen sie sich zusammen und arbeiteten an einem mächtigen Zauber.
Das Ergebnis davon ist das, was du hier siehst. Dieser Ort ist nicht nur schön, er hat auch eine wichtige Aufgabe. Wenige von uns, darunter ich, wurden dazu ausgewählt nach Menschen zu suchen, die von ihrer Seele und ihrem Wesen her keine Menschen sind, sondern unserer Gattung angehören. Diese Menschen werden Prüfungen unterzogen, und wenn sie am Ende hier ankommen, können sie wählen, ob sie ihr Leben weiterhin so leben wollen wie bisher, oder ob sie unserer Rasse angehören möchten."
"Prüfungen?"
"Die Träume, die Burg, der Zombie... die härteste Prüfung ist die Geduld, denn leider gehen die meisten den Weg nicht zu Ende."
"Sind diese Prüfungen immer die gleichen...?"
"Oh nein. Sie sind bei jedem anders. Das ist Teil des Zaubers. Die Prüfungen folgen nur wenigen Richtlinien, alles andere entspringt dem jeweiligen Geist selbst, genauso wie die "Utensilien", die gelegentlich mitgebracht werden," womit er mit einer Hand auf die Scheide an meiner Seite deutete. "Wobei das eigentlich sehr selten ist. Dennoch ein schönes Stück. Doch vergiss nicht, es entstammt deinem eigenen Unterbewusstsein. Ich weiss welche Entscheidung du treffen musstest. Dass du es jetzt bei dir trägst sagt genug über deine Wahl aus. Lass sie nicht über dein weiteres Leben bestimmen. Es mag dir jetzt nicht so vorkommen, doch nichts innerhalb dieser Prüfung ist ohne Bedeutung. Letztendlich ist es jedoch deine eigene Entscheidung. Lass es dir einen Rat sein"
Leicht verwirrt nach dieser Eröffnung setzte ich mich mit einem leisen "Danke..." ins Gras. Urcóun tat es mir gleich. Anscheinend erwartete er ein längeres Gespräch, oder er war genauso erschöpft wie ich, was ich jedoch nicht glaubte. Er schien einiges mehr wegstecken zu können, rein von seinem gut gebauten Körper her zu urteilen.
"Ich habe also die Wahl", begann ich nach einer Pause, "so zu bleiben, wie ich jetzt bin, oder so zu werden, wie du, wenn ich das richtig verstanden habe?"
"Du hast richtig verstanden, wenn du auch sicherlich nicht genau so werden wirst wie ich. Bei unserer Rasse gibt es viele Erscheinungsformen, andere Flügel, Hörner, Farben... es muß nicht sein, daß du dir selbst gefallen wirst."
"Entscheiden sich viele für die Verwandlung?" fragte ich als nächstes.
Urcóun’s Gesichtsausdruck veränderte sich. Er sah nun eindeutig traurig aus und er klang auch so, als er mit tiefer Stimme antwortete.
"Alle... alle von denen, die ausgewählt werden und so weit kommen, wie du. Doch es finden sich nur wenige und du bist seit langem der erste, der die Prüfungen überhaupt bestand. Leider."
Die Traurigkeit griff nun auch auf mich über. Wie schwer es sein musste, Teil einer Rasse zu sein, die So knapp an der endgültigen Auslöschung vorbeigeschlittert war und dann auch noch so direkt mit ansehen zu müssen, wie die letzte Chance auf Rettung größtenteils scheitert, war jenseits meiner Vorstellungskraft.
Nach einer langen Pause begann ich wieder zu sprechen.
"Wie viele von euch gibt es da draußen...?"
"Nicht viele. Wir sind nur wenige und über das ganze Land verstreut. Ich kann dir nicht sagen, wo. Es ist deine Aufgabe, sie zu finden. Doch zuvor musst du dich entscheiden. Es wird allmählich Zeit."
Mit einem Mal verschwand die Traurigkeit aus seinem Gesicht. Er hatte sich wieder unter Kontrolle und sein Ausdruck war wieder genauso starr wie zuvor.
"Komm mit!"
Mit diesen Worten begann er am Seerand entlang in Richtung des Wasserfalls zu gehen. Hastig stand ich auch auf und beeilte mich, neben ihn zu gelangen.
"Werde ich von zu Hause weggehen müssen?"
frage ich Urcóun im Gehen.
"Nein und Ja. Es ist dir nicht verboten, dich Menschen zu zeigen. Auch musst du deine Familie nicht verlassen. Doch sei gewarnt. Es ist ein Geheimnis und das sollte es auch bleiben, doch die größere Gefahr ist für dich selbst, denn viele Menschen bekämpfen Dinge, die sie sich nicht erklären können. Du wirst vielleicht auf Feinde stoßen, wo früher Freunde waren."
Ich erwiderte nichts. In Gedanken versunken ging ich neben ihm her.
Als wie die Stelle fast parallel zum Wasserfall erreichten, blieb Urcóun stehen.
"Hier musst du dich entscheiden."
"Was muß ich tun?"
"Das Wasser ist nicht tief. Du musst in den Sturz gehen. Keine Angst, es wird dir nichts passieren. Er ist genauso unwirklich wie dieser ganze Ort hier. Du musst mir deine Entscheidung nicht sagen. Entscheide für dich selbst. Noch eines: Du wolltest mir zuvor deinen Namen sagen. Ich habe dich unterbrochen und das aus gutem Grund. Wir tragen andere Namen als Menschen. Solltest du dich für unseren Weg entscheiden, so solltest du dich auch für einen anderen Namen entscheiden.
Nun geh. Es ist Zeit."
Ich wollte noch etwas sagen, doch er drehte sich auf der Stelle um, ging schnell auf den Waldrand zu und verschwand in der Dunkelheit zwischen den Bäumen. Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich mich wieder dem Wasserfall zuwandte und den ersten Schritt in den See tat. Das Wasser drang durch meine Schuhe, ohne daß ich es wahrnahm. Ich wußte nicht, was ich denken sollte noch wie ich mich entscheiden sollte und vor allem, wie ich meine Entscheidung mitteilen sollte. Schon bald stand ich direkt vor der Wand aus Wasser, die ohne jegliches Geräusch, dafür mit umso mehr sichtbarer Kraft in den See stürzte, ohne mehr als ein paar kleine Verwirbelungen im Wasser ausrichten zu können.
Ohne zu überlegen trat ich in den Wasserfall. Eine bewusste Entscheidung hatte ich nicht getroffen, doch in meinem Inneren war sie schon längst gefallen. Als ich mit der Hand das Wasser berührte, war mir als würde ich mit unglaublicher Kraft in den Sturz gezogen. Das Gefühl hielt nur für einen Bruchteil einer Sekunde an, danach fühlte ich nichts mehr.


Als ich mein Bewusstsein wiedererlangte, war es dunkel um mich. Ich konnte mich glasklar an alles erinnern. Es war als wären vielleicht ein- zwei Sekunden verstrichen und dennoch fühlte ich mich irgendwie... älter. Älter und doch jünger zur gleichen Zeit.
Ich öffnete die Augen, doch die Dunkelheit um mich blieb. Es war immer noch Nacht, oder schon wieder? Mit dieser Erkenntnis kam auch die, dass ich lag... in einem Bett, oder zumindest etwas ähnlich weichem.
Die Stille, an die ich mich schon so gewohnt hatte, wurde durchbrochen von den leisen Atemzügen eines anderen Menschen. Erschrocken fuhr ich hoch und lauschte in die Dunkelheit. Das Geräusch kam mir bekannt vor, sehr sogar. Doch erst nach ein paar Sekunden erkannte ich es wieder. Es war mein Bruder. Und sofort wußte ich auch wieder, wo ich war. Im Gästezimmer meiner Tante. Es waren zwei Betten und auf dem einen musste ich wohl liegen. Der Atem meines Bruder klang immer noch leise herüber, als ich aufstand und Richtung Tür tapste, jedenfalls dahin, wo ich sie vermutete. Ich fand sie auch ohne irgendwo dagegenzulaufen und machte das Licht an. Nur Augenblicke später hörten die Atemzüge meines Bruders auf und wandelten sich eher in ein unwilliges Grunzen um, bis er schlaftrunken die Augen öffnete und mich anschaute. Zumindest vermutete ich das, denn er sah so aus als würde er noch überhaupt nichts erkennen können. Mit zusammengekniffen Augen fragte er mich "Was is denn? Is schon morgen?". Er drehte sich zu seinem Wecker um und versuchte mit schräggelegtem Kopf etwas zu lesen.
"Wo sind wir hier?", fragte ich ihn in der Zwischenzeit.
Er antwortete nur: "Na wo wohl, die ganze Fahrt hast du doch auch nicht verschlafen gestern, wenn du schon den ersten Abend nicht mitbekommen hast." Die 4 Zahlen der Uhr zu lesen viel ihm sichtlich schwer, doch schließlich hatte er es geschafft und fuhr mich sofort darauf an: "Es ist halb Sechs! Spinnst du? Ich wollte ausschlafen. Ohmann..."
Ich ließ ihn weitergrummeln um selbst auf meine Uhr zu sehen. Er hatte recht. Es war tatsächlich kurz nach halb Sechs morgens. Ich war die ganze Nacht unterwegs, oder.. im Bett? Vielleicht hatte ich das alles auch nur geträumt, aber es konnte nicht sein. Verwirrt setzte ich mich auf mein Bett, nicht ohne zuvor das Licht wieder auszuschalten damit mein Bruder aufhörte mich anzumeckern.
Es konnte nicht sein. Der ganze Traum war so real gewesen. Jetzt sagte ich selbst schon Traum dazu. Das Schloss in dem ich war, der Wald, die Lichtung und der Wasserfall... es konnte unmöglich sein daß ich das nur geträumt hatte. Soviel Fantasie auf einmal würde ich nur wenigen Menschen zutrauen, geschweige denn mir.
Um mich selbst zu beschäftigen und von diesen sinnlosen Gedanken fernzuhalten stand ich wieder auf und öffnete den Vorhang vor der Balkontür. Mein Blick viel auf den selben Wald, in den ich.. gestern.. hineingegangen war, wenn ich es denn war. Die erste Morgenröte tauchte die Baumspitzen in ein seltsam schimmerndes Licht. Es konnte nicht mehr lange dauern bis die Sonne aufging.
Immer noch in Gedanken versunken wandte ich mich von dem Anblick um und ging in das kleine Bad, das zu der kleinen Wohnung hier im ersten Stock dazugehörte. Mir war etwas eingefallen.. meine Wunde. Ich hatte mir die Schulter verletzt und ich hatte mein eigenes Blut an meinen Händen gespürt. Wenn es Realität war, so musste davon etwas zu sehen sein.
Voller Angst daß es wahr, oder auch Angst daß es nicht wahr sein konnte, rollte ich den linken Ärmel hoch und sah mich im Spiegel an.
Nichts. Es war nichts zu sehen. Ich spürte auch keinen Schmerz. Erleichtert entspannte ich mich. Es war also doch nur ein Traum gewesen.
Ich drehte mich wieder zum Zimmer um und in diesem Moment geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Der erste Sonnenstrahl viel durch das Zimmer und wurde von einem langen beidseitig geschliffenen Stück Stahl unter meinem Bett reflektiert. Die Erkenntnis traf mich mit einer unglaublichen Wucht die mir das Herz für einen Moment stehen ließ und jede meiner Bewegungen einfror. Nur Bruchteile von Sekunden später traf mich ebenfalls einer der ersten Sonnenstrahlen und meine Bewegungen wurden jetzt erst wirklich eingefroren. Ein eisiges Gefühl durchlief meinen Körper von unten nach oben bis es meinen Kopf ergriff und mein Bewusstsein ein weiteres Mal am selben Tag auslöschte.

Das Erwachen war ungleich brutaler wie jedes, daß ich zuvor erlebt hatte. Es war kein langsames Zurückdriften vom Traum ins Bewusstsein, sondern ein harter Schlag, der meinem Körper mit unglaublicher Kraft Leben einhauchte. Ich brüllte wie noch nie zuvor in meinem Leben und streckte meinen Körper in voller Anspannung durch. Es war ein Gefühl als würde ich eine zweite Haut sprengen müssen, die sich um meine eigene gelegt hatte.
Das Gefühl verging so schnell wie es gekommen war. Ich hatte die Augen schon geöffnet, doch erst jetzt konnte ich etwas sehen. Ich stand noch immer in der Tür zwischen dem Gästezimmer und dem Bad, doch es war nicht mehr am Morgen. Es war noch immer fast genauso hell, doch es war eindeutig schon spät am Abend. Nach ... Sonnenuntergang.
Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, denn in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und so ziemlich alles an Bekanntschaft, die ich hier hatte kam hereingestürzt. Doch sie kamen nicht weit, sobald sie mich ansahen blieben sie wie angewurzelt stehen und wichen dann zurück. Allen voran meine Tante, danach meine beiden Brüder und außerhalb der Tür war sicherlich meine Mutter. Ich wußte selbst nicht was los war, aber so abschreckend war ich doch sonst auch nicht.
"Geh weg du Monster!" stieß meine Tante mit einem Keuchen aus und hob gleichzeitig ihre Hände abwehrend in meine Richtung.
"Was hast du mit Max getan?"
Ich wußte nicht was ich tun soll, was meinte sie nur? Um sie zu beruhigen hob ich ebenfalls die Hände.... Hände.. anstelle von Händen sah ich nur.. Klauen! Krallenbewehrte Klauen in einer absolut nicht menschlichen Hautfarbe, blau! Ich sah an mir hinab und der Anblick war der selbe. Mein ganzer Körper, nur bekleidet mit einem altmodischen Lendenschurz, war in diesem tiefen Blau und meine Füße waren nicht länger Füße sondern dreizehige Klauen.
Völlig verdutzt starrte ich von meinen Händen zu meiner Tante und wieder zurück. Sie musste wohl an meinem verwirrten Gesichtsausdruck erkennen daß ich ihr nichts antun wollte, denn sie starrte nur mit einer ähnlich ungläubigen Mine zurück, genauso wie die anderen. Langsam drehte ich mich zur Seite zum Badspiegel und was ich sah war atemberaubend.
Urcòun hatte recht. Jeder würde anders aussehen, doch das half mir nicht viel bei diesem Anblick. Nicht nur daß ich größer und muskulöser war als zuvor, das gewaltigste waren die beiden Flügel die aus meinem Rücken wuchsen und meinen Körper umspannten. Es fiel mir schwer zu denken, geschweige denn das überhaupt zu begreifen.
"Was ist passiert?" fragte ich in ungläubigem Erstaunen.
Ich bekam keine Antwort, stattdessen etwas anderes, denn der Mann meiner Tante kam jetzt hereingestürmt, bewehrt mit einem durchaus imposanten Holzstock. Bei meinem Anblick zögerte er zwar, aber griff mich daraufhin ohne weiteres an.
"Ich will euch nichts tun!",
konnte ich gerade noch sagen, bevor mich Matthias erreichte und den Stock schwang um mich niederzuschlagen.
Ohne zu denken gehorchte ich nur meinen Instinkten. Alle Bewegungen erschienen mir auf einmal langsamer als normal, außer meinen eigenen. Mit spielerischer Leichtigkeit fing ich den Knüppel mit einer Hand.... Klaue, auf, schoss mit der anderen vor und hielt Matthias' freie Hand fest.
Mit einer gewaltigen Willensanstrengung unterdrückte ich den Reflex mich einmal um die eigene Achse zu drehen und Matthias mit meinem Schweif zu Boden zu bringen.
Die Gedanken und Reflexe kamen in einer Klarheit und Schnelligkeit als hätte ich sie jahrelang mit diesem Körper antrainiert, doch mein Gegenüber, dessen Hand und Waffe ich immer noch in stahlhartem Griff festhielt war nicht mein Gegner!
Erschrocken ließ ich Matthias los, mir bewusst werdend dass ich ihn lange Momente angestarrt und ihm mit Sicherhit Schmerzen verursacht hatte.
Mit benommenem Gesichtsausdruck sah ich von einem zum anderen. Am verwirrtesten sah mich Matthias an, der die Hände immer noch in der gleichen Pose erhoben hatte. Dunkelrote Ränder zeichneten sich an seinem rechten Handgelenk ab.
Ich war der erste der sich aus seiner Erstarrung löste. Vorsichtig nahm ich eine beruhigende Haltung ein und versuchte meine Schwingen so gekonnt wie Urcóun über meine Schultern zu legen, was jedoch völlig misslang und darin endete daß ich sie ungeschickt hinter mir herabhängen ließ. Noch ein Punkt in dem ich vielleicht etwas üben sollte. Jedoch nicht hier.
"Ich will euch nichts tun", wiederholte ich.
"Ich bin immer noch der selbe... nur nicht äußerlich.".
’Und auch nicht innerlich’, fügte ich in Gedanken hinzu.
"Was bist du?", flüsterte Matthias mit zittriger Stimme.
"Ich bin ....", begann ich,
"Aranesh."
Es war der erste Name der mir einfiel. Ich wußte nicht mehr, woher er stammte, doch ich hatte das Gefühl daß er besser zu mir passen würde als mein eigentlicher Name.
Mein Entschluss war gefasst und ich musste ihn gleich in die Tat umsetzen, ehe ich es mir noch anders überlegte. Es würde anders gehen, aber es war besser wenn ich jetzt sofort gehen würde. Erst musste ich mich selbst akzeptieren, dann konnte ich vielleicht beginnen das von anderen zu verlangen. Fast schon hastig machte ich einen Schritt auf das Bett zu, was zur Reaktion hatte daß alle anderen einen Schritt zurückwichen.
Ich hob beschwichtigend die eine Klaue, kniete nieder und holte mit der anderen sowohl das Schwert als auch die Scheide unter dem Bett hervor. Dieser Anblick ließ meine 'Familie' noch ein gutes Stück zurückweichen.
"Vielleicht werden wir uns bald wiedersehen. Es tut mir leid, aber ich muß das tun", sagte ich während ich mir das Schwert umgürtete und mich zur Balkontür umwandte.

Ein wenig tat es mir weh, daß ich kein einziges "Warte!" oder "Bleib hier" gehört hatte, als ich die Tür öffnete, mich zur Wand drehte und mich mit Hilfe der Krallen an ihr hochzog. Doch der Großteil in mir war froh, sich so entschieden zu haben. Vielleicht konnte ich jetzt die Freiheit erleben, nach der ich mich schon so lange gesehnt hatte.
Nach kurzer Zeit auf dem Dach angekommen, stieß ich mich ab, breitete die Schwingen aus und ließ mich in die Luft fallen. Es war ein herrliches Gefühl durch die kalte Nachtluft zu fliegen, herrlicher als alles andere was ich je zuvor erlebt hatte. Woher ich es konnte, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht wurde es mir mitgegeben mit dem Geschenk so zu sein, oder es war seit je her in mir und ich brauchte nur den Körper um es zu tun. Doch das machte keinen Unterschied. Ich hatte meinen Weg gewählt und jetzt musste ich meinen weiteren Weg finden,

als Gargoyle



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